Ukraine-Krise: Nato-Staaten erhöhen Militärpräsenz in Osteuropa (Reuters)
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Als Schweden und Finnland ihren Beitrittswunsch in das westliche Militärbündnis offiziell verlautbarten, ging eine Welle der Begeisterung durch die westlichen Medien. Die anstehende Norderweiterung der Nato, deren „Hirntod“ der französische Präsident Emmanuel Macron noch wenige Jahre zuvor attestiert hatte, wurde als Wiederauferstehung des weltweit größten Verteidigungsbündnisses gewertet und vor allem als großer geostrategischer Sieg gegenüber dem nach Expansion strebenden Russland verbucht. Doch der Intensivpatient wurde bei der Berliner Außenministerkonferenz der Nato-Staaten mit einer bösen „Überraschung“ wachgerüttelt: Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu knüpfte an die Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan an und erklärte noch am Samstag, dass sowohl Finnland als auch Schweden Terrororganisationen unterstützten. Er ging in diesem Zusammenhang vor allem auf die Unterstützung der verbotenen PKK bzw. YPG durch Schweden ein und verwies auf Waffenlieferungen an die Terrororganisationen in Nordostsyrien. Man habe beiden Nato-Anwärtern die eigenen Einwände mit Bildmaterialien und sonstigen Dokumenten verdeutlicht und darauf hingewiesen, dass die schwedischen Treffen mit dem Führungskader der Terrororganisation mit Unbehagen beobachtet werden würden.

Nato-Norderweiterung

Als die Welle der Euphorie an der türkischen Brandung zerschellte, ließ der mediale Tsunami der Empörung nicht lange auf sich warten. Deutsche Medien gifteten Richtung Ankara und bezichtigten die türkische Regierung, mit diesem „Getöse“ „innenpolitisch punkten“ zu wollen und mit dieser „Unverschämtheit“ das Ansehen der Nato zu beschädigen. Jedes demokratische Land solle doch darüber erfreut sein, wenn Demokratien mit starken Verteidigungsfähigkeiten das gemeinsame Bündnis stärken würden, betonte die deutsche Außenministerin am Rande des informellen Treffens der Nato-Außenminister. Die Gastgeberin fuhr fort und unterstrich, dass beiden Staaten im Zuge des Beitrittsprozesses sehr viel Unterstützung zuteil werde. Die Äußerungen der deutschen Außenministerin geben im Wesentlichen die Stimmungslage in der westlichen Öffentlichkeit wieder: Die aggressive Expansionspolitik Russlands im Osten der Ukraine hat eine neue Bedrohungswahrnehmung in Europa ausgelöst und die bislang neutralen Schweden und Finnen dazu bewogen, ihre Rolle im Konzert der europäischen Mächte neu zu überdenken. Den Drahtseilakt, den sie seit den Zeiten des Kalten Krieges vollführten, konnten sie angesichts eines unberechenbaren Kremls nicht mehr fortsetzen. Aus dieser Sicht ist der derzeit unüberhörbare Aufruf zur demonstrativen Solidarität und Empathie für die beiden skandinavischen Staaten verständlich.

Ankara und Nato: Eine ambivalente Beziehung

Allerdings sind ausgerechnet Solidarität und Empathie zwei Aspekte, die die Türkei als Nato-Mitglied seitens ihrer „Verbündeten“ seit Jahren vermisst. 2015 verdeutlichte der Türkei einmal mehr, wie wichtig die Installation eines ständigen Luftabwehrsystems ist. Die jahrelangen Anstrengungen, das Patriot-Luftabwehrsystem zu erwerben und zum Schutze des heimischen Luftraums einzusetzen, liefen ins Leere. Die Vereinigten Staaten verweigerten der Türkei den Verkauf des Patriot-Systems, was in Ankara zu Irritationen führte. Alternative Gespräche mit Moskau über die Stationierung einer S-400-Batterie düpierten Washington zutiefst. Das Radarsystem der Russen sei eine Gefahr für die F-35 Kampfjets, denn man könne damit geheime Stealth-Eigenschaften entschlüsseln, so die Auffassung der amerikanischen Verbündeten. Während Washington der S-400-Stationierung im Nato-Land Türkei nicht zustimmen konnte, sieht es den Betrieb der S-300-Systeme in Griechenland und Bulgarien als völlig unproblematisch an. Selbst der Betrieb von zwei Staffeln F-35-Kampfjets in Griechenland im Radarfeld einer S-300 löst im Pentagon keine Schnappatmung aus. Beide Staaten sind wohlgemerkt Mitglieder im westlichen Militärbündnis. Doppelmoral?

Die Liste der Enttäuschungen und Ungleichbehandlungen lässt sich fortsetzen: Das Waffenembargo der Vereinigten Staaten gegen Ankara im Zuge der Militärintervention auf Zypern in der 70er Jahren, die deutsche Liefersperre von Leopard-Panzern im Kampf gegen die Terrororganisation PKK Anfang der 90er Jahre, der Lieferstopp von Panzerprojektilen während der Operation Olivenzweig im westsyrischen Afrin gegen die YPG, der kanadische Lieferstopp für Bauteile türkischer Drohnen im Zuge des zweiten Karabachkrieges vor zwei Jahren. Den größten Vertrauensbruch stellte ohne Zweifel die massive militärische Unterstützung der YPG durch die Vereinigten Staaten dar. Die YPG gilt als syrischer Ableger der PKK, die in vielen Staaten, auch in Deutschland, als terroristische Vereinigung eingestuft wird und verboten ist. Die Sorge Ankaras, dass die aus dem Westen gespendeten Waffen eines Tages gegen die Türkei gerichtet würden, bestätigt sich in letzter Zeit immer häufiger: Türkische Grenzschützer nehmen immer wieder Gewehre und Raketenwerfer aus Nato-Beständen in Beschlag, die festgenommene YPG-Terroristen mit sich führen. Die Türkei könne sich darauf verlassen, dass diese Waffen nie gegen sie selbst gerichtet würden, versprachen einst ranghohe amerikanische Militärs. Heute hat sie das Nachsehen.

Neue Mitglieder in der Nato: Déjà-vu mit fadem Beigeschmack

Dass ein gegebenes Wort besser schriftlich eingeholt werden sollte, müssten die türkischen Verantwortlichen mittlerweile besser wissen. Als nämlich Griechenland 1978 seine Rückkehr in die Nato beantragte, stieß es aufgrund etlicher Differenzen auf das Veto der Türkei. Neben der ungeklärten Frage der Hoheitsgewässer lagen Ankara geheimdienstliche Erkenntnisse vor, wonach Athen der armenischen Terrororganisation ASALA Unterstützung sowohl in militärischer als auch finanzieller Hinsicht leistete. Die armenische Terrorbande blieb im Untergrund lange Zeit unentdeckt, da sie sich auf ein breites Unterstützernetzwerk verlassen konnte.

Erst nach dem Militärcoup 1980 wurde der damalige Führer der Militärjunta, Kenan Evren, nach zähen Verhandlungen zum Einlenken bewogen. Er gab schließlich nach, als der ehemalige Nato-General und Verhandlungsführer Alexander Haig ihm gegenüber von „Kamerad zu Kamerad“ ein „Soldaten-Ehrenwort“ gab, dass Griechenland im Falle einer türkischen Zusage weder eine militärische noch eine politische Gefahr gegenüber der Türkei darstellen werde. Den Luftwaffenstützpunkt von Larissa werde Athen nicht ausbauen und in der Ägäis keinerlei Ärger bereiten. Nach Zustimmung Ankaras blieb von dem Indianerehrenwort des Nato-Generals nicht viel übrig: Unter Missachtung des Völkerrechts rüstet Griechenland die ägäischen Inseln vor der dicht besiedelten Küste der Türkei wie wild auf und stellt die türkischen Hoheitsgewässer in Frage. Die Terrorchefs der ASALA und der PKK wurden entweder mitten in Athen oder in einer diplomatischen Vertretung Griechenlands ausfindig gemacht. Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten nicht nur den thessalischen Flughafen in Larissa ausbauen, sondern annähernd 20 weitere Militärstützpunkte in Griechenland unterhalten und das hoch verschuldete Land in ein Wettrüsten mit der Türkei treiben. Ankara sieht sich mit einer aggressiven und expansiven Politik Griechenlands konfrontiert, die ihm jegliche Existenz sowohl in der Ägäis als auch im östlichen Mittelmeer abspricht.

Sicherheitsinteressen der Türkei – konspiratives Paktieren mit Terrornetzwerken muss ein Ende finden

Die stiefmütterliche Behandlung in der Verteidigungsallianz hat über die Jahre zu einer sehr skeptischen Haltung gegenüber der atlantischen Allianz geführt, und zwar nicht nur in Kreisen der politischen Führung, sondern auch unter der Bevölkerung. Der Verweis des türkischen Außenministers Çavuşoğlu auf die Erwartungshaltung der türkischen Bevölkerung im Hinblick auf die Norderweiterung der Nato kommt daher nicht von ungefähr. Enttäuschungen, Unverständnis und Abweisung sind die Erfahrungen, die die Beziehungen der Türkei zur Nato in den letzten 50 Jahren geprägt haben. Seit circa 40 Jahren kämpft die Türkei mit einer separatistischen Terrororganisation, die bislang über 40.000 Menschen das Leben gekostet hat. Militärisch ist die PKK bereits besiegt, doch das Netzwerk gedeiht in Ländern wie Schweden und Finnland ungehemmt weiter. Der Auslieferungsantrag von 11 strafrechtlich verurteilten PKK Angehörigen wurde bis heute von beiden skandinavischen Staaten abgelehnt.

Die Nato definiert sich selbst als Beistandspakt, dessen Grundprinzip die Solidarität im kriegerischen Ernstfall darstellt. Das ist unmissverständlich. Doch wer zu seinem eigenen Schutz Solidarität von anderen einfordert, muss diese im gleichen Maße auch seinem Bündnispartner entgegenbringen. Bis heute haben weder Schweden noch Finnland gegenüber der Türkei diese Bereitschaft signalisiert. In der künftigen Sicherheitsarchitektur des Westens darf es keine Abstufungen unter Bündnispartnern geben, und die Sicherheitsbedürfnisse eines jeden Nato-Partners müssen ernstgenommen werden. Der Faktor Sicherheit und das Recht auf territoriale Unversehrtheit sind völkerrechtlich hohe Güter und dürfen nicht durch das konspirative Paktieren mit terroristischen Organisationen ausgehöhlt werden. Das ist die erste Lektion, die die beiden skandinavischen Länder in ihre gute Kinderstube mitnehmen sollten, wenn sie denn Nato-Mitglieder werden wollen. Die Türkei ist kein Mitläufer der Nato und will auch nicht das fünfte Rad am Wagen werden. Sie steht einer Erweiterung der Nato grundsätzlich offen gegenüber und will als zweitgrößtes Nato-Mitglied das Verteidigungsbündnis konstruktiv mitgestalten, aber nicht als Statist, sondern als gleichberechtigter Partner auf Augenhöhe.

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