29. Oktober 2022: Erdoğan stellt Projekt „Türkiye-Jahrhundert“ / Photo: AA (AA)
Folgen

Wer schon einmal Gelegenheit hatte, die Feierlichkeiten zum Gründungstag der modernen Republik Türkiye live vor Ort mitzuverfolgen, wird zustimmen, dass es würdevolle, aber auch farbenfrohe Festivitäten sind. Unabhängig davon, ob man in der Hauptstadt Ankara oder in einem der weiteren 80 Landesteile dabei ist, wird man von der Stimmung mitgerissen, egal ob bei offiziellen Ansprachen, Konzerten, Ausstellungen oder sportlichen Events.

Aber auch die Repräsentanten und Freunde von Türkiye im Ausland lassen sich regelmäßig etwas Beeindruckendes einfallen. Dabei verdient eine Veranstaltung dieses Jahr besondere Erwähnung: Am Abend vor dem Nationalfeiertag der Botschafter von Türkiye in der Republik Österreich zusammen mit der Botschafterin der Ständigen Vertretung bei der OSZE in Wien sowie dem Botschafter bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen, ebenfalls in Wien beheimatet, zu einem Empfang gebeten. Gästeliste: rund 600 Persönlichkeiten, eine enorme Anzahl, die ihresgleichen sucht.

Und dann kam der große Moment: In einer Videoschalte verkündete Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Fahrplan für das Jahrhundert von Türkiye. Doch worum geht es dabei genau? Drei Highlights und zuvor ein kurzer Gesamtüberblick.

Neue Verfassung, humanitäre Dimension, Wirtschaft plus Technologie

Fassen wir zuerst die gesamte Bandbreite von Erdoğans Vorschlägen zusammen. Es geht darum, in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, Technologie, Militär oder Diplomatie neue Zeichen zu setzen. Erdoğan scheute sich nicht, deutlich zu machen, dass Reformen zu Hause nach wie vor höchste Priorität besitzen müssen, eine äußerst bemerkenswerte Analyse eines so erfolgreichen Staatsmannes, der die Geschicke seines Landes seit über zwei Jahrzehnten maßgeblich geformt hat. In den meisten anderen Staaten würde man solche Kommentare niemals hören, da Selbstbeweihräucherung leider zur politischen Tagesordnung geworden ist. Nicht so in Türkiye – Erdoğans AK Partei hatte vor zwei Jahrzehnten den steinigen Weg der kompletten politischen, sozialen und ökonomischen Runderneuerung propagiert und dabei sensationelle Erfolge verbucht. Nunmehr zu sagen, dass Reformpolitik eine permanente Aufgabe ist, sollte Politiker überall sonst aufhorchen lassen. Wir kommen auf diesen Punkt noch zurück, aber die Tatsache, dass es in Türkiye keinen extremen und demokratiefeindlichen Populismus gibt, basiert darauf, dass Erdoğan und seine MitstreiterInnen eben ohnehin absolut populär sind. Anders formuliert: Wer populär ist aufgrund demokratischer Inhalte hält alle eventuellen Populisten leicht zurück, ohne rhetorische Kosmetik oder falsche Versprechungen.

Ende der militärischen Bevormundung

Nun zu drei Hauptargumenten. Erstens sagt Erdoğan, dass sein Land eine neue Verfassung benötige, und zwar eine, die auf modernen Werten basiert wie Pluralismus, Gesetzesstaatlichkeit oder Freiheiten. Vergessen wir nicht, dass die Verfassung des Jahres 1980 das Produkt eines Militärputsches war! Aus diesem Grund war die Verfassung von 1980 keine den demokratischen Werten angemessene Verfassung, weshalb seit Jahren diskutiert wird, diese Verfassung zu ändern. Und bevor dieses große, allumfassende Projekt umgesetzt werden kann, schlägt er vor, dass bereits in wenigen Tagen eine Verfassungsänderung dem Parlament vorgelegt wird, die endlich die autokratisch anmutende Kleiderordnung für Frauen für immer widerlegt. Es geht hierbei um das Verbot für Frauen, die es so bevorzugen, ein Kopftuch zu tragen: Erdoğan sagt, dass, egal ob mit oder ohne Kopfbedeckung, alle Frauen von Türkiye dieselben edukativen oder beruflichen Chancen haben müssen.

Zweitens: Zu Zeiten, in denen viele andere Länder dieser Erde ihre mentalen Zugbrücken hochziehen und anschließend ihre Türen und Herzen für Menschen in Not verriegeln, wird Türkiye weiterhin ein Vorbild für humanitäre Hilfe und Unterstützung sein, wo immer benötigt. Ohne es direkt anzusprechen, dürfen wir zwischen den Zeilen lesen und verstehen, dass das, was Griechenland zurzeit anrichtet, mit universellen Menschenrechten kaum noch vereinbar ist, Stichwort „Illegal Migrant Push-backs“ und deren nun bewiesene Duldung durch die EU-Außengrenzen-Behörde FRONTEX.

Und drittens Wirtschaft und Technologie. Jeder Politstratege weiß, dass man mit Außenpolitik allein selten Wahlen gewinnen kann. Allerdings kann eine 360-Grad-Außenpolitik, vorurteilsfrei, den Menschen ein Gefühl der Akzeptanz in der Welt vermitteln, ein sogenannter „Feelgood-Faktor“, der sich dann auch auf das generelle Wohlfühlen zu Hause auswirkt. Von daher widmete der Präsident einen großen Teil seiner Ansprache den Themen verbesserte Produktion in der Wirtschaft, fortgeschrittene Technologien als Schlüssel hierzu, ein Fokus auf dem enorm großen Inlands-Absatz-Markt, um dann zu sagen, dass Türkiye eines der größten Handels- und Industriezentren unserer Welt werden soll. Er spricht die anstehende Digitalisierung ebenso an wie die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.

Nachhaltigkeit in Wirtschaft, aber auch Gesellschaft

Der Präsident sprach abschließend das Thema Nachhaltigkeit an in Bezug auf unser Ökosystem und dessen Wertschätzung. Dieser Punkt unterstreicht, dass anders als in vielen anderen Staaten ein unkontrolliertes ökonomisches Wachstum nicht mehr wünschenswert erscheint. Die Umwelt muss im Vordergrund stehen.

Diese Worte eines Staatsmannes, der sein Land von einem nach innen schauenden, isolierten Land in eine weltoffene Gesellschaft mit Kontakten in allen Ecken unseres gemeinsamen Planeten umwandelte, sind bemerkenswert. Es beweist, dass Umweltschutz und wirtschaftliches Wachstum Hand in Hand gehen können, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Dies bringt uns noch einmal zurück zum Punkt populär versus Populisten. Was Türkiye unterscheidet, ist, dass man, sollte es Probleme geben, diese nicht diskret unter den Teppich kehrt, sondern in aller Deutlichkeit anspricht. Das schafft Vertrauen in der Bevölkerung.

Das Jahrhundert von Türkiye scheint hierbei richtungsweisend zu werden.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com