Istanbul / Photo: Reuters (Reuters)
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Von Ayşe Işın Kirenci

In Türkiye stehen die Kommunalwahlen vor der Tür. In der Mega-Metropole Istanbul müssen die Einwohner ihre Erwartungen sorgfältig abwägen, ehe sie am 31. März an die Urnen gehen.

Im Laufe der Jahre hat die historische Stadt mit mittlerweile etwa 17 Millionen Einwohnern viele Veränderungen erlebt. Die wichtigsten Wahlkampf-Themen, die den Wählern unter den Nägeln brennen, sind derzeit Katastrophenschutz wegen des Erdbebenrisikos, die Wirtschaft und eine funktionierende Stadtpolitik. Zum letzteren gehören lang ersehnte Lösungen für die Verkehrsstaus, Überbevölkerung, Luftverschmutzung und Lärmbelastung.

Die unzähligen Herausforderungen von Istanbul bringen viele Versprechen der Kandidaten mit sich, die seit Monaten für das Amt des Bürgermeisters um die Wählergunst kämpfen.

Murat Kurum von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AK-Partei) kandidiert zum ersten Mal für das Amt.

Sein Programm verspricht die Umsetzung von Bauprojekten zu Lebensräumen für streunende Tiere, eine Kulturakademie für die Stadt und die Lösung von Problemen im Zusammenhang mit fehlenden Parkplätzen und Taxis. Aber auch eine Stadtplanung, die einer Erdbebenvorsorge bautechnisch gerecht werden soll, gehört vorrangig zu seiner Agenda. Historische Stätten in Istanbuler Bezirken wie Fatih, Sultanahmet und Süleymaniye sollen ebenfalls bei den Reform- und Renovierungsplänen nicht zu kurz kommen.

Kurum gilt als Herausforderer des amtierenden Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoğlu von der größten Oppositionspartei des Landes, der Republikanischen Volkspartei (CHP).

Imamoğlu wirbt für eine zweite Amtszeit – mit sozialen Unterstützungsprogrammen für Familien, ebenso mit Projekten wie Freizeitparks für Kinder und Grünflächen. Die Wiederherstellung historischer Haine und die Bekämpfung der Folgen der Klimakrise für die Stadt gehören zu den weiteren Versprechen.

Seine Kandidatur steht jedoch im Schatten seiner ersten Amtszeit, da er einige seiner Wahlversprechen, die er bei den letzten Wahlen gegeben hatte, nicht erfüllt hat.

Angesichts dieser zwei unterschiedlichen Visionen für die türkische Metropole hat TRT einige Istanbuler gefragt, welche Themen sie bei der Wahl ihres neuen Bürgermeisters für wichtig erachten.

Istanbul (AA)

Stadtplanung und Erdbebenvorsorge vordergründig

Şeyma, 24 Jahre alt und Medienschaffende, ist der Meinung, dass Projekte zur Umgestaltung der Stadt einen großen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung haben werden, da diese auch für die Erdbebenvorsorge entscheidend seien.

Sie weist darauf hin, dass diese Projekte jedoch nicht zur Folge haben dürfen, dass Stadtviertel ihren Geist verlieren, was eine maßvolle und sorgfältige Planung erfordere.

Der Schritt solle mit der Dokumentation von Gebäudeschäden einhergehen, damit die Einwohner auf ein mögliches Erdbeben vorbereitet sind, so die Istanbulerin.

Die geplante Bautransformation von Istanbul ist ein staatliches Vorhaben, das darauf abzielt, potenzielle Risiken im Zusammenhang mit einem möglichen Erdbeben zu minimieren.

Durch die Dokumentation des Risikoniveaus bestehender Gebäude, die Wandlung risikobehafteter Grundstücke und Gebäude sowie die Schaffung von geeigneten Ersatzflächen für die Neugründung von neuen Wohnräumen sollen drohende Schäden abgewehrt werden.

Während Erdbebenvorsorge und Stadtplanung zu ihren Hauptanliegen gehören, ist Şeyma der Meinung, dass auch die Bevölkerungsdichte zu den dringendsten Herausforderungen Istanbuls gehört.

Deshalb befürwortet Şeyma städtische Umgestaltungspläne, die mit einer Politik der Bevölkerungsreduzierung einhergehen, sodass größere und geräumigere Viertel und Erholungsflächen entstehen können.

Şeyma, die seit sechs Jahren in Istanbul lebt, spiele manchmal mit dem Gedanken, wegen des Erdbebenrisikos umzuziehen, obwohl sie die Stadt eigentlich liebe.

Die junge Türkin plagt die Sorge, dass die historische Stadt durch ein mögliches Erdbeben weitgehend zerstört werden könnte, selbst wenn sie selbst überleben würde.

Istanbul (AA)

Kommunalwahl sollte nicht ideologisch belastet sein

Meryem arbeitet als Redakteurin bei einer Zeitschrift und ist in Istanbul geboren und aufgewachsen. „Istanbul ist mein Zuhause“, sagt die 31-Jährige über ihre Beziehung zu der türkischen Metropole.

Sie kritisiert, dass die Menschen die Kommunalwahlen ideologisch angingen, anstatt sich auf Lösungen für die aktuellen Probleme der Stadt zu konzentrieren.

Dazu gehören ihrer Meinung nach die Erdbebenvorsorge, die Verkehrsüberlastung und die zu hohe Bevölkerungszahl, wobei die Erdbebenpolitik Vorrang haben solle.

Eine effiziente Stadtplanung könne diese Probleme lösen und die Stadt sicherer und geordneter machen, betont Meryem. Sie erwarte von den Kandidaten, dass die im Wahlkampf geäußerten Versprechen für Projekte in Istanbul auch erfüllt würden.

Istanbul (Others)

„Die Stadt, in der ich den Rest meines Lebens verbringen werde“

Çetin ist der Ansicht, Istanbul könne noch lebenswerter gemacht werden, wenn bau- und planungsrechtlich mangelhafte Flächen und Gebäude erneuert würden und mehr Spielplätze und Parks für mehr Grün sorgten.

Da der 50-jährige Verleger mehr als die Hälfte seines Lebens in dieser Stadt verbracht habe, sei Istanbul „die Stadt, in der meine Kinder geboren und aufgewachsen sind. Es ist die Stadt, in der ich wahrscheinlich den Rest meines Lebens verbringen werde. Und ich kann sie als mein Zuhause bezeichnen“.

Neben seiner Verbundenheit zu Istanbul weist Çetin aber auch auf die Dringlichkeit einer Erdbebenvorsorge hin. Um die Schäden, die ein Erdbeben anrichten könnte, zu minimieren, sei es notwendig, die Bürger aufzuklären und die Zahl von Schutzräumen und Versammlungsflächen zu erhöhen.

Seine wichtigste Forderung ist jedoch ein erschwinglicheres öffentliches Verkehrssystem mit einem erweiterten Netz von Eisenbahn- und U-Bahnlinien, um alle Teile der Stadt zugänglich zu machen.

Solche ÖPNV-Reformspläne fänden bei der breiten Öffentlichkeit Anklang, ebenso die Lösung des Wohnungsproblems. Die Mieten in Istanbul seien derzeit zu hoch, es müsse bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden, fordert er.

„Kommunalwahl sollte nicht mit Parlamentswahlen gleichgesetzt werden“

Die 27-jährige Rumeysa kritisiert, dass die Menschen in Türkiye bei ihrer Herangehensweise die Kommunalwahlen mit Parlamentswahlen gleichsetzten.

Es mache keinen Sinn, wenn Wahlberechtigte sagten, dass sie einen Kandidaten auf kommunaler Ebene wegen dessen Parteipolitik wählten oder eben nicht wählten.

Da die Kommunalwahl große Auswirkungen auf den Alltag der Menschen habe, sollten sich die Wähler laut Rumeysa bei ihrer Entscheidung auf den Kandidaten konzentrieren und nicht auf die Partei.

Ihre eigene Entscheidung hänge vor allem davon ab, welche Vorschläge die jeweiligen Kandidaten hinsichtlich der Überbevölkerung in Istanbul parat hätten. Jeder in der Stadt habe tagtäglich dagegen zu kämpfen, aber auch im Falle eines Erdbebens stelle eine Überbevölkerung ein großes Risiko dar, so die junge Frau.

Sie werde für einen Kandidaten stimmen, der einen soliden Plan zur Vorbereitung Istanbuls auf ein größeres Erdbeben vorlegen könne, da solche Maßnahmen nach den Erdbeben vom 6. Februar 2023 im Südosten des Landes zur Hauptsorge von Türkiye geworden seien.

Rumeysa hat auch klare Vorstellungen darüber, wie gute Vorbereitungen auf ein mögliches Erdbeben aussehen könnten: Erste-Hilfe-Kurse für alle Bevölkerungsgruppen, die von Gemeindevorstehern in jedem Viertel organisiert würden, eine ausreichende Menge an Containern mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern in jedem Viertel sowie eine schnelle Überprüfung bestehender Gebäude auf Erdbebensicherheit.

Sie lebe seit 14 Jahren in Istanbul und finde die Stadt äußerst reizvoll – auch wenn die Metropole manchmal anstrengend sei.

Bisherige Leistungen der Kandidaten entscheidend

Ibrahim zufolge können nachhaltige Lösungen beim Katastrophenschutz erst dann erreicht werden, wenn sich große Kommunen in Zusammenarbeit mit einer leistungsstarken Regierung für die Erdbebenvorsorge engagieren.

Nach Ansicht des 52-jährigen Agraringenieurs hat politische Einigkeit eine Schlüsselfunktion, um in diesem Bereich positive Ergebnisse zu erzielen.

Es gebe einige erfolgreiche Beispiele für Stadtmanagement und Katastrophenschutz, so etwa in den Istanbuler Bezirken Üsküdar und Esenler, sagt Ibrahim. Beide Bezirke werden von Bürgermeistern der AK-Partei regiert.

Die Umgestaltung der Städte solle höchste Priorität haben, nicht nur um das Erdbebenrisiko zu mindern, sondern auch um die Lebensqualität der Bewohner zu erhöhen, fordert Ibrahim.

Er hoffe, dass damit auch ein neuer Bezug zum Thema Umwelt hergestellt werde – „vielleicht auch mit einer Ausweitung der Grünflächen.“

Zudem müsse das Problem der streunenden Hunde gelöst werden. Die frei herumlaufenden Tiere würden weiterhin bei Eltern große Angst auslösen.

„Wenn man sich vergegenwärtigt, was die Kandidaten vorher geleistet haben, wird schon klar, wer diese notwendigen Projekte wirklich umsetzen kann“, so Ibrahim.

Da er seit 35 Jahren hier lebe, sei Istanbul seine Heimatstadt und einzigartig – nicht vergleichbar mit anderen Städten in Türkiye oder woanders in der Welt.

Dennoch wünsche er sich ein lebenswerteres Istanbul mit einem vernünftigen, digitalisierten Nahverkehr und realistischen Leitlinien für den Umweltschutz.

Mehr Teilhabe und Mitspracherecht für Bürger

Die 25-jährige Deniz will sich bei der Stimmabgabe für einen Bürgermeister-Kandidaten nach den kurz- und langfristigen Projekten zur Regulierung des städtischen Raums richten.

Bei der Verwaltung städtischer Räume sollten Studenten und junge Menschen im Entscheidungsprozess vertreten sein, meint sie.

Indem man Bürgern Anreize biete, sich an der Lösung von Problemen der Stadt zu beteiligen und sich zu engagieren, würden sich diese Menschen auch vertreten fühlen.

Die Kommunalwahlen seien für Deniz insofern wichtig, weil sie das tägliche Leben der Bürger in den nächsten fünf Jahren bestimmen würden und die Lebensqualität in Istanbul sehr stark davon abhänge, wie der Bürgermeister regiert.

„Von Verkehr bis zu den Bibliotheken wird das Leben der Menschen von der Gestaltung des kommunalen Umfelds beeinflusst“, sagt sie.

Die Katastrophenschutz-Politik, die für das Leben der Menschen von entscheidender Bedeutung sei, werde auch für sie zweifelsohne ein wichtiges Kriterium bei den Wahlen am 31. März sein.

Die Umsetzung wirksamer Maßnahmen zur Erdbebenvorsorge erfordere die Zusammenarbeit von zentralen mit lokalen Verwaltungen, sagt Deniz.

Die Stadt erinnere die gebürtige Istanbulerin an ihre Kindheit, ihren gesamten Bildungsweg, ihre Liebsten, ihre sozialen und kulturellen Beziehungen und vor allem an ihre Identität.

„Ich habe meine Identität hier gebildet und entwickle sie hier weiter. Deshalb empfinde ich mich durch und durch als Istanbulerin. Ich habe fast alle Ecken Istanbuls kennengelernt und ich habe in den verschiedensten Stadtteilen unterschiedliche Dinge entdeckt. Ich kenne die Eigenheiten und entwickle Strategien für verschiedene Orte in Istanbul, um hier einfacher und entspannter zu leben. So bereichert die Stadt mit ihrer Geschichte, ihrer vielfältigen Bevölkerung, ihrem sich ständig verändernden sozialen Umfeld und ihren Möglichkeiten meinen Blick und meine Perspektive“, betont sie.

Außerdem sei Istanbul mit seiner Infrastruktur und seinen Ressourcen nicht nur die wichtigste türkische Stadt, sondern steche auch als Weltstadt hervor.

TRT Deutsch