30. April 2021, Schleswig-Holstein, Reinbek: In der Produktionsstätte von Allergopharma in Reinbek bei Hamburg reihen sich Fläschchen mit dem Corona-Impfstoff von BioNTech/Pfizer aneinander. (dpa)
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Es ist ein Dammbruch: In der Corona-Pandemie schließt sich die US-Regierung jetzt den Forderungen vieler ärmerer Länder und Hilfsorganisationen an. Sie will, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Impfstoffe verlieren. Dann könnten Hersteller in aller Welt die Impfstoffe produzieren, ohne Lizenzgebühren an Biontech/Pfizer, Moderna und Co zahlen zu müssen. Theoretisch zumindest.
Denn erstens müssten mehr als 160 Länder zustimmen, dass internationale Copyright-Bestimmungen außer Kraft gesetzt werden. Und zweitens dürfte es ohne Unterstützung der Pharmafirmen kaum gelingen, die komplexen Rezepte der neuartigen Impfstoffe einfach nachzumachen. Die Pharmafirmen und -verbände laufen bereits Sturm. Das „Wall Street Journal“ spricht von einem drohenden „Diebstahl der Impfstoff-Patente“.
Die USA stünden zwar hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, sagte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai am Mittwoch. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen.“ Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach auf Twitter von einer „historischen Entscheidung“. Damit könne der Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe begegnet werden.
Für die Pharmafirmen ist das ein Schlag. Der in Mainz ansässige Biontech-Gründer Uğur Şahin lehnte die Lockerung des Urheberschutzes vergangene Woche noch ab: „Das ist keine Lösung“, sagte Şahin bei einer Veranstaltung des Vereins der Ausländischen Presse in Deutschland. Die Herstellung des Impfstoffs sei kompliziert, und die Qualität müsse sichergestellt werden. Biontech erwäge aber die Lizenzvergabe an kompetente Hersteller.
Pharmaunternehmen haben 200 Technologietransfer-Abkommen abgeschlossen
Die Pharmaindustrie argumentiert, dass sie auf eigenes Risiko Millionen in die Forschung investiert. Die allermeisten Projekte versanden irgendwann. Wenn aber einmal ein erfolgreiches Mittel dabei herauskomme, müsse das Unternehmen auch Rendite machen können, um die Investitionen wieder hereinzuholen und Aktionäre zu belohnen. Außerdem hätten Pharmafirmen schon mehr als 200 Technologietransfer-Abkommen abgeschlossen, um mit Partnern in ärmeren Ländern mehr Impfstoffe bereitstellen zu können - aber unter Wahrung des Patentschutzes.
Der Verband der US-Pharmaunternehmen (PhRMA) warnte gar, dass es ohne Patente zur Verbreitung gepanschter Impfungen führen könne. Und der Verband der US-Biotech-Industrie (Bio) sieht gar die Gefahr, dass andere Länder die führende Rolle der USA in der Biotechnologie untergraben könnten.
Eine Sprecherin von Pfizer sagte der „New York Times“, der Impfstoff habe 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Um das zu verarbeiten, seien komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal notwendig. In dieselbe Kerbe haut auch der Generaldirektor des Pharmaverbandes IMFPA, Thomas Cueni. Alles sei viel zu kompliziert: „Selbst, wenn die Patente ausgesetzt würden, würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen.“
Es gibt aber eine ganze Reihe von Herstellern, die sich das zutrauen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits eine Plattform für den Technologietransfer speziell für die neuartigen mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna aufgeschaltet. Dort haben sich auch schon 50 Interessenten gemeldet, wie der verantwortliche Leiter bestätigt. Die meisten seien aber von Firmen, die um Technologietransfer bitten oder Einrichtungen, die sich als Trainingszentren bewerben - nur wenige hätten Interesse ausgedrückt, Wissen zu teilen.
Problematisch sind nach Darstellung der Pharmafirmen vielmehr Engpässe bei den Rohstoffen und dem Material. Die Denkfabrik Chatham House zeigte dies im März auf: Es fehlten Glasfläschchen, Bioreaktorbeutel für Zellkulturen, fötales Kälberserum als Medium für Zellkulturen und Nanopartikel, in die manche Impfstoffe eingelagert werden müssen. Warum? Weil die Industrie bis Ende 2021 rund 14 Milliarden Impfdosen in Aussicht gestellt hat, drei bis vier Mal so viel Impfstoff als bislang pro Jahr hergestellt wurde.
Vorstoß von Indien und Südafrika
Jene Pharmaunternehmen, die die Technologie besitzen, wehren sich seit Monaten gegen eine Aufweichung des Patentschutzes. Den Vorstoß hatten Indien und Südafrika im Oktober 2020 in der Welthandelsorganisation (WTO) eingebracht. Dort ist das TRIPS-Abkommen über den Schutz gestiegen Eigentums hinterlegt, dort müssten auch alle 164 Mitgliedsländer zustimmen, entscheidende Passagen auszusetzen.
Bis zu dem US-Vorstoß waren die Fronten dort aber klar: keine Zustimmung zu einer Aufweichung. „Der TRIPS-Vertrag ist die Voraussetzung dafür, dass Unternehmen wie Biontech solche Mittel überhaupt entwickeln“, sagte ein westlicher Handelsdiplomat in Genf. „Es wäre das völlig falsche Signal, den Patentschutz einfach auszuhebeln.“ Am Donnerstag fand eine weitere Sitzung statt.
Das Argument, dass Pharmaunternehmen für ihre Forschungsanstrengungen belohnt werden müssen, zieht nicht bei Kate Elder, Impfstoff-Expertin bei der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Biontech/Pfizer, Moderna und andere hätten Milliarden aus Steuergeldern bekommen, um die Forschung an Corona-Impfstoffen voranzutreiben. „Die Früchte von daraus resultierender Forschung müssen mit kompetenten Herstellern geteilt werden“, fordert sie. „Öffentliche Gelder dürfen nicht umsonst sein.“
Die EU, die in der WTO für alle Länder verhandelt, zeigte sich nach dem US-Vorstoß auch kulanter als vorher: „Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht“, sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen.
Einen Seitenhieb auf die USA, die die US-Impfstoffproduktion zuerst gänzlich für die eigene Bevölkerung behalten hatten, konnte sie sich nicht verkneifen. Länder mit eigener Produktion müssten exportieren. „Europa ist die einzige demokratische Region der Welt, die Exporte im großen Maßstab erlaubt“, so von der Leyen. Es seien schon mehr als 200 Millionen Impfdosen in den Rest der Welt geliefert worden, fast so viel, wie in der EU selbst verabreicht worden seien. Die EU sei die Apotheke der Welt. Was die Impfquote anbelangt, liegt die EU selbst gleichzeitig immer noch deutlich hinter Ländern wie Israel, mehreren Golfemiraten, den USA oder Großbritannien zurück.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn blieb zunächst vage. „Die ganze Welt mit Impfstoff zu versorgen, ist der einzig nachhaltige Weg aus dieser Pandemie“, sagte er am Donnerstag. Eine Lockerung des Patentschutzes befürwortete er nicht. Entscheidend sei vor allem der weitere Ausbau von Produktionsstätten und mehr Exporte aus Ländern, in denen produziert wird.

dpa