Nawalny-Protest in Moskau (dpa)
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In einer beispiellosen Protestwelle haben Zehntausende Menschen in ganz Russland für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. „Freiheit für Nawalny“ und „Putin, uchodi“ - zu Deutsch: „Putin, hau ab!“, skandierten die Menschen in Dutzenden Städten im flächenmäßig größten Land der Erde. Die Proteste vom äußersten Osten des Landes bis nach Kaliningrad an der Ostsee richteten sich gegen die politische Verfolgung Andersdenkender. In Moskau kam es zu Zusammenstößen der Polizei mit Demonstranten. Es gab Dutzende Verletzte. Bürgerrechtler zählten bis zum frühen Samstagabend landesweit mehr als 1800 Festnahmen.

„Putin ist ein Dieb“

In Polizeigewahrsam kamen erstmals auch Nawalnys Ehefrau Julia und zum wiederholten Mal auch seine Mitarbeiterin Ljubow Sobol. „Putin wor“ - „Putin ist ein Dieb“ - riefen die Menschen in Moskau und vielen anderen Städten. Es war der Satz des Tages, der die vielen Demonstranten im ganzen Land auch über die riesigen Distanzen miteinander verband. Dabei ging es nicht nur um dem Raub von demokratischen Freiheitsrechten, viele riefen: „Russland wird frei sein!“. Dass Putin als Dieb bezeichnet wird, hängt vor allem mit den Korruptionsvorwürfen gegen ihn und seinen Machtapparat zusammen. Nawalny deckt diese Machenschaften seit Jahren auf - und hat deshalb besonders viele Feinde in der russischen Führung. Der Clou: In seinem jüngsten Enthüllungsvideo zeigt Nawalnys Team unter dem Titel „Ein Palast für Putin“ erstmals überhaupt Bilder, Augenzeugenberichte und Dokumente zu Russlands größtem privaten Anwesen. Der Putin-Gegner hält es für erwiesen, dass das milliardenschwere „Zarenreich“ mit eigener Eishockey-Arena, Hubschrauber-Landeplatz, Casino und Aquadisco dem Präsidenten gehört. Finanziert worden sein soll es aus Schmiergeldern, die der Kremlchef von seinen Freunden in Staatskonzernen und von Oligarchen erhält.

Nawalny-Protest in Moskau (DPA)

Der Kreml weist das als Unsinn zurück. Doch auch Tage nach der Veröffentlichung des Videos mit 70 Millionen Aufrufen bis Samstagnachmittag hat sich noch niemand zu dem Grundstück am Schwarzen Meer bekannt. Das dürfte die ohnehin laut Soziologen inzwischen verbreitete Proteststimmung in Russland noch einmal zusätzlich aufgeladen haben. Allein in der Hauptstadt Moskau sprachen Unterstützer Nawalnys von 40 000 Teilnehmern. Die Polizei gab die Zahl deutlich niedriger an. Am Abend kam es teils zu schweren Zusammenstößen mit der berüchtigten Sonderpolizei OMON. Demonstranten durchbrachen Absperrungen mit Metallgittern und warfen mit Feuerwerkskörpern und Schneebällen. Die Uniformierten prügelten im Gegenzug mit Schlagstöcken auf die vorwiegend jungen Demonstranten ein. Proteste in mehr als 90 russischen Städten Vorbeifahrende Autos hupten aus Solidarität für die Demonstranten. „Ich möchte nicht in einem Russland leben, wie wir es jetzt haben“, sagte die 30-jährige Irina einem Reporter der Deutschen Presse-Agentur. „Wir haben keine Demokratie“ Unter den Teilnehmern am zentralen Puschkin-Platz waren viele Jugendliche - obwohl Behörden sie im Vorfeld besonders abzuschrecken versucht hatten. Hochschulen drohten etwa Studenten mit Rauswurf. In St. Petersburg nahmen Demonstranten den berühmten Newski-Prospekt ein. Insgesamt gab es nach Darstellung von Nawalnys Stab Proteste in mehr als 90 russischen Städten, um den zurzeit im berüchtigten Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenstille“ inhaftierten Politiker zu unterstützen. Schon im Vorfeld waren viele Leiter regionaler Stäbe von Nawalnys Anti-Korruptions-Organisation teils bei brutalen Polizeieinsätzen festgenommen worden. Viele setzten Videos ab: „Wenn Ihr dieses Video seht, bin ich schon festgenommen...“ Und sie forderten erneut zu Protesten auf.

Nawalny-Protest in Sankt Petersburg (DPA)

Der Oppositionsführer war am Montag nach seiner Rückkehr aus Deutschland bei Moskau in einem umstrittenen Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden war. Nawalny soll gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben, während er sich in Deutschland von einem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok erholte. Der 44-Jährige sieht das Vorgehen der Justiz als politisch motiviert an. Ihm drohen viele Jahre Gefängnis - sowie mehrere Gerichtsverfahren. „Die Vergiftung Nawalnys und seine Verhaftung“ Aufgrund der Zeitverschiebung mehrere Stunden vor den Menschen in Moskau waren in anderen Städten bereits Tausende Demonstranten auf die Straßen gegangen - im fernöstlichen Jakutsk sogar bei eisigen Temperaturen von minus 56 Grad Celsius. Vielerorts blieb das befürchtete brutale Vorgehen von Sicherheitskräften aus. Wegen der Corona-Pandemie werden in Russland schon seit Monaten keine Kundgebungen mehr genehmigt. Menschenrechtler sehen das als Vorwand, um die Opposition zum Schweigen zu bringen. Wie erfolgreich der Protestaufruf der Opposition letztendlich sein würde, war bis zuletzt nicht absehbar gewesen. Am Ende des Tages stand fest: Viele russische Städte hatten die größten ungenehmigten Proteste seit Jahren erlebt - darunter auch das sibirische Tomsk, wo Nawalny vor fünf Monaten vergiftet worden war. Die Staatsmacht habe zwei Fehler gemacht, kommentierte die Politologin Tatjana Stanowaja: „Die Vergiftung Nawalnys und seine Verhaftung.“ Nawalny sieht ein „Killerkommando“ des Inlandsgeheimdienstes FSB unter dem Befehl Putins für den Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok im August verantwortlich. Der Präsident und der FSB weisen das zurück. Russland bestreitet gar, dass es überhaupt einen Anschlag gab. Mehrere Labore, darunter eines der Bundeswehr, haben die Nowitschok-Vergiftung bestätigt. Die EU hat deshalb Sanktionen gegen Russland verhängt. Auch im Ausland versammelten sich Nawalny-Anhänger vielerorts zu Protestaktionen, unter anderem in Berlin, Finnlands Hauptstadt Helsinki und im polnischen Warschau. Die Freilassung Nawalnys hatten unter anderen auch die EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert. Russland aber verbittet sich aber eine Einmischung in innere Angelegenheiten. Die Proteste sollen weitergehen.

dpa