Österreich: Kurz gegen Aufnahme von Afghanen (dpa)
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Truppenabzug endet in einem humanitären Desaster

Trotz des von US-Präsident Biden im April angekündigten Abzugs amerikanischer Truppen sowie weiterer NATO-Staaten aus Afghanistan bedeutet die rasante Eroberung des Landes und der Hauptstadt Kabul durch Taliban-Kräfte eine Zäsur für die westliche Staatengemeinschaft. Denn was nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Kampf gegen das Terrornetzwerk al-Qaida begann, als Aufbau von Demokratie, Menschenrechten und sozialem Fortschritt für Afghanistan fortgesetzt und nebenbei als „Nation-Building“ betrieben werden sollte, endete für viele Menschen vor Ort in einem humanitären Desaster. Die Bilder von fliehenden Menschen, die aus Angst und Verzweiflung den internationalen Flughafen von Kabul stürmten, in Flugzeuge eindrangen oder sich ans Fahrwerk der Maschinen klammerten und schließlich den Halt verloren, gingen um die Welt.

Auf Fragen von Journalisten bezüglich der Lage in Afghanistan sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz am 16. August von einer „falschen Einschätzung der Entwicklung aller“, und sie übernehme hierfür die Verantwortung. Vor allem Deutschland hatte in den letzten 20 Jahren Fortschritte beim Wiederaufbau des Landes und in der Bildung von Frauen und Mädchen vorzuweisen.

Das Land war mit der Bundeswehr an der NATO-Mission für Afghanistan beteiligt und sorgte mit anderen NATO-Partnerstaaten für eine gewisse Stabilität im Land, wofür 59 deutsche Soldaten ihr Leben ließen. Gerade weil Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus sowie für den Aufbau von Strukturen seinen Beitrag geleistet hat, sollte es nach dem Scheitern der Mission Verantwortung übernehmen und der afghanischen Bevölkerung in Not helfen.

Nach der Machtübernahme der Taliban rief die EU-Kommission die Mitgliedstaaten dazu auf, sich auf mögliche Fluchtbewegungen aus diesem Land vorzubereiten. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson forderte die EU-Mitgliedstaaten ferner dazu auf, über das Umsiedlungsprogramm des UNO-Flüchtlingshochkommissariats mehr Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Insbesondere zwei EU-Mitgliedstaaten, Österreich und Griechenland, weigern sich seit Beginn der Entwicklungen in Afghanistan grundsätzlich, weitere Flüchtlinge vom Hindukusch aufzunehmen.

Österreich schottet sich aus Angst vor weiteren Flüchtlingsströmen ab

Die Regierung der Alpenrepublik lehnte nach der Machtergreifung der Taliban und der derzeitigen prekären Sicherheitslage Forderungen nach einem Abschiebestopp für negativ beschiedene Asylbewerber nach Afghanistan ab und schlug die Errichtung von Abschiebezentren in den Nachbarstaaten sowie Hilfe vor Ort vor. Doch die angesprochenen Länder wie Pakistan, Iran, Usbekistan oder Tadschikistan nahmen nach dem sowjetischen Einmarsch 1979 bereits Millionen von afghanischen Flüchtlingen auf.

Selbst als Taliban-Einheiten in Kabul einmarschierten, Vertreter der afghanischen Regierung außer Landes flohen und viele Menschen in Panik zum Kabuler Flughafen rannten, erklärte Innenminister Nehammer: „Wir müssen so lange wie möglich abschieben.“ Erst kürzlich kündigte das österreichische Innenministerium die Verstärkung des Grenzschutzes an, erhöhte die Zahl der Grenzsoldaten von 600 auf 1.000 und verlegte weitere 27 Polizeibeamte zur Unterstützung der Armee an die Grenzen. Darüber hinaus setzt Wien verstärkt auf den Einsatz von Drohnen, die sich im Einsatz gegen „Schlepperei“ und „illegale Migration“ bewährt haben sollen.

Es ist rechtlich betrachtet problematisch, dass die österreichische türkis-grüne Koalitionsregierung an der Praxis festhalten möchte, abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan in ihr Heimatland zurückzuschicken. Denn diese Sichtweise steht im Kontrast zu der in der österreichischen Verfassung verankerten Europäischen Menschenrechtskonvention, auf die auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen hingewiesen hatte. Nach der Menschenrechtskonvention dürfen Menschen nicht abgeschoben werden, wenn ihnen in dem abgeschobenen Land Verfolgung, Folter oder Tod drohen.

Griechenland kündigt Ausbau des Grenzzauns zur Türkei an

Die griechische Regierung kündigte trotz der Situation in Afghanistan bereits an, keine afghanischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Der neue Minister für Einwanderung und Asyl, Notis Mitarakis, kündigte den Ausbau eines fünf Meter hohen Grenzzauns an der Grenze zur Türkei und „modernisierte Strukturen“ auf den Inseln Samos (Sisam), Kos (Istanköy) und Leros (Ileryoz) an. Man werde nicht zulassen, erneut zum Einfallstor in die EU zu werden, erklärte Mitarakis im Fernsehen. Bereits seit Jahren steht Griechenland wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen in der Kritik.

Amnesty International: Flüchtlingspolitik Griechenlands verstößt gegen Völkerrecht

In einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft diese griechischen Grenztruppen vor, „gewaltsam und rechtswidrig“ Schutzsuchende festzuhalten, um sie anschließend in die Türkei zurückzudrängen. Die gewaltsamen Push-Backs gehörten „de facto zur griechischen Grenzpolitik“ und hätten System. Mit dieser Politik verstoße Athen gegen die eigenen Menschenrechtsverpflichtungen nach EU- und Völkerrecht. Amnesty fordert die EU-Grenzschutzagentur Frontex auf, ihre „Operationen auszusetzen“, da sie ihrer Aufgabe nicht nachkomme, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Geflüchtete seien Gewalt von uniformierten und zivil gekleideten Personen ausgesetzt, die sie mit Schlägen durch Stöcke oder Knüppel, Tritten, Faustschlägen, Ohrfeigen und Stößen traktierten.

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verweist auf Fälle, bei denen griechische Küstenwachen Boote mit Geflüchteten „abfingen, angriffen, untauglich machten“ und die Menschen zurückdrängten.

Verantwortung übernehmen für humanitäre Katastrophe in Afghanistan

Die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union haben eingestanden, die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt zu haben. Allerdings sollte diesem Eingeständnis auch eine Verantwortung für die hinterlassene humanitäre Katastrophe in Afghanistan folgen. Dies bedeutet nicht, dass Millionen Afghanen in Europa aufgenommen werden sollten, sondern – wie zum Beispiel Kanada, das sich bereit erklärt hat, 20.000 Afghanen aufzunehmen – ein bestimmtes Kontingent an Geflüchteten in die EU-Staaten aufzunehmen. Die EU sollte sich in einer Konferenz mit den Nachbarstaaten und internationalen Organisationen an einen Tisch setzen, um die Zukunft Afghanistans zu erörtern und das Land nicht seinem Schicksal überlassen.

Die österreichische Regierung hat noch immer keinen Abschiebestopp für Afghanen verhängt, aber selbst Deutschland weigerte sich bis zum 11. August, Abschiebungen an den Hindukusch auszusetzen, bis der schnelle Vormarsch der Taliban die Bundesregierung zum Umdenken veranlasste. Eine Frage besteht darin, ob zukünftige internationale Hilfen an bestimmte Kriterien wie Menschenrechte gekoppelt werden sollten. Wie aus den beiden Beispielen der EU-Mitgliedstaaten deutlich wurde, sind weder Österreich noch Griechenland bereit, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen, was ein politisches Armutszeugnis darstellt.

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