Protest von Umweltaktivisten Extinction Rebellion für mehr Klimaschutz in Berlin (AFP)
Folgen

Politikverdrossenheit und Wahlbeteiligung

Meinungsforschung und Wahlanalyse sind mittlerweile auf so hohem Niveau, dass zwar nicht alle Wahlergebnisse akkurat vorhersagbar sind, denn dafür ist gesellschaftliches Verhalten zu komplex und menschliches Handeln zu unberechenbar, doch lassen sich Wahlergebnisse besser aufschlüsseln und verstehen als bei früheren Wahlen. Und soziale Stimmungslagen sind gut zu erkennen.

Nach einer Studie des renommierten Allensbach-Instituts von 2020 erleben Menschen ihre Umgebung in der Pandemie als zunehmend verunsichert, ungeduldig, aggressiv und egoistisch. Gleichzeitig bekam die Bundesregierung höhere Zustimmungswerte für ihr Corona-Management als die meisten anderen Regierungen in Europa. Die Zufriedenheit nahm 2021 ab, aber nicht in einem Maße, dass die Bundestagswahl eine Protestwahl gegen die Pandemiemaßnahmen zu werden verspricht. Wahlprognosen gehen aktuell eher von Verlusten bei Parteien an den Rändern des politischen Spektrums aus.

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die seit Jahrzehnten postulierte Politikverdrossenheit dazu führt, dass Menschen, frustriert vom politischen System, gar nicht mehr zur Wahl gehen. Dagegen spricht aber eine im europäischen Maßstab relativ hohe Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen von über 70 Prozent, die auch nicht regelmäßig abnimmt, wie das bei Wahlen zum Europäischen Parlament über einen längeren Zeitraum der Fall war, bis 2019 wieder eine deutlich höhere Wählermobilisierung zu verzeichnen war. Auf Landesebene lässt die Wahlbeteiligung ebenfalls nicht nach. Manchmal ist es eine große Zufriedenheit, die dazu führt, dass Menschen gerade nicht wählen gehen, weil das Ergebnis sowieso klar erscheint – wie oft beim Dauersieger CSU in Bayern. Oder eine höhere Wahlbeteiligung kommt gerade dadurch zustande, dass das Ergebnis nicht vorher feststeht und es konkurrierenden Lagern gelingt, ihre Unterstützer zu mobilisieren, wie jüngst bei der US-Präsidentenwahl. Die Wahlbeteiligung allein ist also nicht besonders aussagekräftig.

Politische Teilhabe und neue soziale Bewegungen

Stimmabgabe bei Parlamentswahlen ist wichtig für die Demokratie. Sie ist aber bei weitem nicht der einzige Ausdruck von politischem Interesse und Teilhabe. In den Anfängen der Bundesrepublik gelang es Volksparteien, programmatische Angebote zu machen, die viele Menschen attraktiv fanden und das nicht nur bei Wahlen zum Ausdruck brachten, sondern auch durch Mitgliedschaften in Parteien. Seitdem hat sich die deutsche Gesellschaft stark verändert und ausdifferenziert. Es gibt heute mehr Möglichkeiten, sich einzubringen und einen Unterschied zu machen, anstatt bloß mit dem System und „den“ Politikern unzufrieden zu sein. Es gibt vielfältige neue soziale Bewegungen und alternative Formen der Teilhabe am politischen Leben. Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit, wie es im Grundgesetz heißt, aber sie stehen dabei in wachsender Konkurrenz. Menschen vernetzen sich, tauschen sich auf Plattformen aus, demonstrieren, bringen Petitionen ein und organisieren sich auf vielfältige Weise. Um Gehör, Gleichgesinnte und Unterstützer zu finden, braucht es heute keine großen Voraussetzungen mehr, und selbst Sprachbarrieren lassen sich technisch überwinden, wie aktuell auf der Online-Plattform zur Zukunft Europas zu beobachten ist. Dort werden Beiträge mit Hilfe künstlicher Intelligenz in Echtzeit in alle Amtssprachen übersetzt.

Wahlversprechen und Skandale

Wie die empirische Sozialforschung ist heute auch die Überprüfung von Wahlversprechen auf einem anderen Niveau als in der Vergangenheit. Ein Grund dafür liegt darin, dass in Deutschland Koalitionen die Regel sind und bei deren Bildung Verträge geschlossen werden, die präzise aufführen, was die neue Regierung in ihrer Amtszeit umzusetzen verspricht. Weil es also nicht mehr um vage, mündliche Versprechen geht, auf die man nicht festgelegt werden kann, sondern um vertragliche Zusagen, können Medien wie die Süddeutsche Zeitung tagesaktuell aufschlüsseln, was die Regierung versprochen hat, was davon umgesetzt ist, woran gearbeitet wird und was noch aussteht.

Das allein bestimmt aber nicht, wie die Qualität des Regierens empfunden wird. Weder die Pandemie noch die Flutkatastrophe sind ein Punkt im Koalitionsvertrag. Mindestens so wichtig wie die inhaltliche Arbeit sind das Auftreten des politischen Personals und Fragen von Ethik und Glaubwürdigkeit. Auch hier hat sich gegenüber der Vergangenheit viel verändert. Politikerinnen und Politiker werden auf das Genaueste beobachtet, jeder Fehltritt und jede ungeschickte Formulierung umgehend sanktioniert. Es geht nicht nur um die Sache, sondern um Erscheinungsbild und oft auch ihre private Lebenssituation. Entsprechend häufiger können öffentlich Fehler gemacht werden. Und weil es auch eine mediale Skandalisierungsindustrie gibt, die davon lebt, Versagen anzuprangern, entsteht der Eindruck permanenter Aufregung über das Fehlverhalten der politischen Klasse. Dabei ist es für eine Demokratie überlebenswichtig, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Gerät aber alles zum Skandal, dann macht es in der öffentlichen Wahrnehmung keinen Unterschied mehr, ob ein gewählter Repräsentant des Volkes falsch zitiert, an unpassender Stelle lacht und sich ungeschickt ausdrückt oder Landesverrat begeht, sich bestechen lässt und massiv Gesetze bricht. Dies auseinanderzuhalten und entsprechend zu gewichten, ist zentral für die politische Kultur.

Demokratie in Deutschland 2021

Zusammengefasst lässt sich eine wachsende Verunsicherung in Deutschland beobachten, was im zweiten Jahr der Pandemie und angesichts von Naturkatastrophen in Folge des Klimawandels kaum verwundert. Diese Stimmungslage führt nicht dazu, dass die Wahlbeteiligung spürbar zurückgeht. Extremistische Parteien können auf etwa 10 % der Stimmen hoffen, schaffen es aber nicht, mehr Menschen zu mobilisieren. Klarer Verlierer der gesellschaftlichen Veränderungen sind die Parteien, die einen steten Mitgliederschwund zu verzeichnen haben. Dies allein stützt nicht die These einer Politikverdrossenheit, wenn man gleichzeitig an die massenhafte Politisierung denkt durch Bewegungen wie Fridays for Future, Querdenken, Pulse of Europe oder Unteilbar-Demos, um nur einige zu nennen. Auch persönliche oder finanzielle Hilfe bei Naturkatastrophen oder für Organisationen wie Oxfam, Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen oder die Spendenbereitschaft sind Ausdruck sozialer Verantwortung. Das politische System in Deutschland verändert sich und steht vor großen Herausforderungen. Bislang funktioniert es, und das ist die gute Nachricht in einer Welt, in der das Modell westlicher Demokratie zunehmend unter Druck gerät.

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