Ein Abkommen zur Wiederaufnahme der Getreidelieferungen aus der Ukraine soll am Freitag in Istanbul unterzeichnet werden. (AA)
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Aufgrund des am 24. Februar ausgebrochenen Krieges zwischen Russland und der Ukraine, die zusammen rund 30 Prozent des weltweiten Mais- und Weizenbedarfs und mehr als die Hälfte des Sonnenblumenölbedarfs abdecken, ist die weltweite Nahrungsmittelversorgung ernsthaft gefährdet. Die gemeinsamen Vermittlungsbemühungen von Türkiye und den Vereinten Nationen (UN) zur Überwindung dieser für die gesamte Menschheit wichtigen Krise haben zu positiven Ergebnissen geführt.

Nach den abschließenden Verhandlungen unterzeichneten Russland und die Ukraine am 22. Juli in Istanbul im Beisein der Vereinten Nationen und Türkiye das Abkommen „Initiative für die sichere Verschiffung von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen“. Dabei ist unbedingt der Punkt anzumerken, dass Russland und die Ukraine bedingt durch den andauernden Krieg keine direkte bilaterale Vereinbarung getroffen haben. Stattdessen unterzeichneten beide Länderseparate Vereinbarungen mit den vermittelnden Akteuren. Dementsprechend wurden in Istanbul ein Abkommen zwischen Russland, Türkiye und der UN sowie ein weiteres Abkommen zwischen der Ukraine, Türkiye und der UN unterzeichnet. Darüber hinaus wird als unmittelbare Folge auf die getroffenen Vereinbarungen

die Unterzeichnung eines weiteren Abkommens zwischen den Vereinten Nationen und Russland erwartet, um zukünftig den Export von Getreide und Düngemitteln aus Russland zu erleichtern.

Getreideexport aus der Ukraine startet erneut

Mit dem in Istanbul in Anwesenheit von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und UN-Generalsekretär Antonio Guterres unterzeichneten Abkommen erlaubt Russland im Wesentlichen, dass Getreide und andere Lebensmittel, die in der Ukraine festliegen, durch gesicherte Korridore, die in den verminten Seegebieten geöffnet werden sollen, über das Schwarze Meer auf den Weltmarkt exportiert werden. Geplant ist, dass rund 80 Schiffe, die derzeit aufgrund von Minen vor den ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer nicht auslaufen können und auch sonst keine alternativen Routen nehmen können, mit Lotsenschiffen sicher in internationale Gewässer gebracht werden. Für die Dauer dieser Transaktionen vereinbaren die Kriegsparteien einen Waffenstillstand und verpflichten sich, die Sicherheit der Schiffe nicht zu gefährden.

Im Rahmen des unterzeichneten Abkommens, das in der ersten Stufe in den nächsten 120 Tagen umgesetzt und bei Bedarf verlängert werden soll, sind drei wichtige Punkte vereinbart worden. Als erstes werden die Schwarzmeerhäfen der Ukraine wieder für Getreideexporte geöffnet. Des Weiteren wird unmittelbar vor den ukrainischen Hoheitsgewässern eine Sicherheitszone eingerichtet, um sicherzustellen, dass die ein- bzw. auslaufenden Schiffe keine Waffen an Bord haben. Darüber hinaus wird in Istanbul ein Kontrollzentrum eingerichtet, um die Exporte sicher durchzuführen und die Einhaltung der Vertragsbedingungen durch die Parteien zu überprüfen.

25 Millionen Tonnen Getreide wurden mit dem Abkommen gerettet

Dieses Abkommen, auf das die ganze Welt sehnsüchtig gewartet hat, ist in vierfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Erstens wird die riesige Menge von mehr als 25 Millionen Tonnen Getreide, die schon seit längerer Zeit in Silos in der Ukraine lagert, vor dem Verderben gerettet. Wenn man bedenkt, dass in der ganzen Ukraine überdies die neue Ernte auf dem Feld wartet, wird dank dieser aktuellen Entwicklung eine gigantische Lebensmittelverschwendung verhindert, die weit über das hinausgehen würde, was uns diesbezüglich aus der Menschheitsgeschichte bekannt ist.

Zweitens hat diese Entwicklung, die ebenso darauf abzielt, akute Probleme der globalen Nahrungsmittelversorgung zu beheben, den Weg für den sicheren Transfer des von der ganzen Welt benötigten Getreides auf die internationalen Märkte geebnet. Auf diese Weise entgeht die Welt einer möglichen Nahrungsmittelknappheit und erhält, wenn auch nur temporär, eine Lösung für die Versorgungsknappheit, welche die globalen Getreidemärkte belastet hat.

So stiegen gemäß der im März von der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation veröffentlichten Daten die Lebensmittelpreise aufgrund der Unterbrechungen in den Lebensmittel-Lieferketten seit Kriegsbeginn um 33,6 Prozentim Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aus diesem Grund steigt die Inflation für Lebensmittel in vielen Ländern, auch in Europa. So gesehen wird die weltweite Nahrungsmittelinflation dank der zwischen Russland und der Ukraine vermittelten Vereinbarung zumindest für eine Weile gebremst.

Schlussendlich ebnet dieses Abkommen der Ukraine, deren Wirtschaft durch den Krieg schwer getroffen wurde und die sich in einem Engpass befindet, den Weg für dringend benötigte Einnahmen, die ins Land fließen werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass nach den Daten aus dem Jahr 2021 41% (27,8 Milliarden Dollar) der Gesamtexporte der Ukraine, die sich auf insgesamt 68 Milliarden Dollar belaufen, auf landwirtschaftliche Produkte entfallen. In einem Umfeld, wo die Exporte insgesamt zurückgehen, die Produktion eingeschränkt läuft und die Inflation aufgrund des Krieges zunimmt, kommt die jüngste Entwicklung daher einer Rettungsleine für die ukrainische Wirtschaft und die Landwirte gleich.

Türkiye ist gelungen, was Europa nicht geschafft hat

Türkiye und UN haben seit etwa zwei Monaten gemeinsame Anstrengungen unternommen, um eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine in dieser Frage zu erzielen. Letztlich ist die Zustimmung beider Parteien ein konkreter Beweis für die Ernsthaftigkeit dieser Bemühungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass insbesondere Türkiye bei dieser Einigung zwischen den Kriegsparteien die Rolle des Vermittlers übernommen hat. Trotz des Drucks durch das internationale System seit Beginn des Krieges ist es Türkiye gelungen, mit der Prämisse im Sinne seiner eigenen nationalen Interessen ein politisches Gleichgewicht zwischen Russland und der Ukraine zu wahren, aktive Beziehungen zu beiden Seiten aufzubauen und das Vertrauen der Parteien zu gewinnen. Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass die beiden Länder beharrlich auf Türkiye und keinem anderen Land als Vermittler bei der Überwindung der Getreidekrise bestanden haben. Türkiye ist damit ein wichtiger diplomatischer Erfolg gelungen, welcher den europäischen Partner wie Deutschland und Frankreich, die ebenfalls versuchten, zwischen den Parteien zu vermitteln, aber letztlich scheiterten, nicht gelang.

Auch die Tatsache, dass im Rahmen des Abkommens in Istanbul ein Koordinierungszentrum für die Sicherheit von Getreidetransporten eingerichtet wird, untermauert das Vertrauen Russlands und der Ukraine in Türkiye. Ebenso ist zu betonen, dass die vertrauensvolle Beziehung, die Präsident Erdoğan auf dem diplomatischen Parkett sowohl zu Putin als auch zu Zelenski aufgebaut hat, eine erleichternde Rolle im gesamten Vermittlungsprozess gespielt hat, der am Ende zu der jetzt unterschriebenen Einigung führte. Kurz gesagt verdeutlicht dieses in Istanbul unterzeichnete Abkommen, egal aus welcher Warte man es beurteilt, den Erfolg einer auf Ausgleich ausgelegten Politik, die Türkiye seit Beginn des Krieges verfolgt, und zeigt darüber hinaus, wie wichtig das Land bei der Lösung internationaler Probleme geworden ist.

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