U-Boot (AA)
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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hielt vor wenigen Tagen auf dem Jahreskongress des „Verbands Unabhängiger Unternehmer und Industrieller“, kurz MÜSİAD, eine viel beachtete Rede. Die Ankündigungen des Präsidenten weisen an manchen Stellen auf mögliche tiefgreifende Veränderungen im internationalen Kräftegleichgewicht hin. In Deutschland, wo die Verlautbarungen von Erdoğan sonst äußerst sorgfältig verfolgt werden, brachte es die Rede diesmal nicht in die Zeitungsseiten. Doch die Botschaft der Ansprache, gehalten an die Interessenvertreter von kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Türkei, war so unzweideutig, dass sie auch für Europa überaus relevant und richtungsweisend erscheint. Der türkische Präsident wies in seinen Ausführungen auf die sicherheitspolitische Wandlung der Kräfteverhältnisse in der Welt und die sich dadurch ergebenden Chancen für viele Staaten hin. Erdoğan erläuterte in seiner Rede: „Die Welt steht an der Schwelle zu einer neuen Ära. Dieses Mal wird die Türkei den Zug nicht verpassen und wird an vorderster Stelle den Platz einnehmen, der ihr gebührt.“ Und weiter: „Wir wurden in den letzten zwei Jahrhunderten mit den gewaltigsten Angriffen der Welt konfrontiert. Diejenigen, die uns die anatolischen Landstriche so sehr missgönnt haben, haben sich sehr darum bemüht, uns hier zu vertreiben. Diejenigen, die uns leiden ließen, wollten, dass wir an der Industriellen Revolution nicht teilhaben. Wir haben uns mit den Siegen in unserem Unabhängigkeitskrieg und der Gründung der Republik eine neue Richtung gegeben, aber wir wurden auch in dieser Zeit nicht in Ruhe gelassen. Während die Welt im Zeitalter der Wissenschaft und Technologie lebte, verschwendeten wir unsere ganze Energie mit internen Konflikten. Deshalb haben wir den großen Sprung verpasst.“ Der türkische Präsident erklärte, die Welt befinde sich vor einer tiefgreifenden und „brandneuen Ära“ und die Fußstapfen des neuen globalen, politischen und wirtschaftlichen Machtsystems seien unverkennbar. Dieses Mal werde die Türkei aber ihren rechtmäßigen Platz an vorderster Front einnehmen und nicht wie in der Vergangenheit das Nachsehen haben. „Die Türkei konzentriert sich fest auf ihre Zukunft, die in den letzten 19 Jahren auf dem Fundament einer stabilen Demokratie und Infrastruktur errichtet wurde“, unterstrich Erdoğan vor versammeltem Publikum.

Innerwestliche Konflikte vorprogrammiert

Doch was könnte mit dem neuen globalen, politischen und wirtschaftlichen Machtsystem gemeint sein? Gerade vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen im Indopazifik und der Diskussion um eine europäische Verteidigungsstrategie einerseits und dem Verhältnis zwischen Europa sowie Großbritannien und den Vereinigten Staaten andererseits gibt es Hinweise auf den genannten globalen, politischen und wirtschaftlichen Wandel im Kräftegleichgewicht. Innerwestliche Konflikte sind damit schon jetzt vorprogrammiert. So haben Großbritannien und die Vereinigten Staaten einen neuen Sicherheitspakt mit Australien geschlossen. Der Zeitpunkt des Vertrages liest sich wie eine Botschaft der angelsächsischen Großmächte nicht nur an China, sondern gerade auch an die Adresse der Europäischen Union (EU). Denn nur einen Tag nach der Ankündigung der europäischen Indopazifik-Strategie, die Chinas Machtstreben im Indischen Ozean und im Pazifik eindämmen soll, kam die prompte Reaktion Großbritanniens und der Vereinigten Staaten. Der AUKUS-Pakt (Australia, United Kingdom, United States of America) ermöglicht Australien den Zugang zu Atom-U-Booten. Canberra würde damit neben den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats, Israel und Indien zum achten Land auf der Welt, das nuklear bestückte U-Boote bekommt. Die neue Dreier-Allianz im Indopazifik entzweit den Westen.

„Messer in den Rücken“

Frankreich als eine führende Macht in Europa fühlt sich durch diesen Pakt verständlicherweise verraten: Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian kritisierte die Entscheidung in einem Interview als „Messer in den Rücken“ und als „einseitige, brutale, unvorhersehbare Entscheidung“, die statt von Joe Biden vielmehr von der Trump-Administration zu erwarten gewesen sei. Zudem warf der Außenminister den Amerikanern einen Mangel an strategischen Konzepten vor, weil Paris aus dem neuen Bündnis kurzerhand ausgeschlossen wurde. Die Aussage des Außenministers, dass Frankreich „mit der Geschichte noch nicht fertig“ sei, verdeutlicht, dass sich die Konfrontationsspirale zwischen dem westlichen Nachbarland Deutschlands und den USA sowie Großbritannien weiter drehen wird. Der erste diplomatische Schritt aufgrund der Auseinandersetzung zeigte sich darin, dass Frankreich seine Botschafter aus den Vereinigten Staaten und Australien abzog.

Misstöne an der transatlantischen Front

In diesem Zusammenhang kritisiert Clemens Wergin in der „Welt“ man könne nicht einerseits die Europäer auf eine gemeinsame Eindämmungsstrategie gegen Peking drängen, um dann im selben Atemzug so genannte europäische Partner wie Frankreich bei der erstbesten Gelegenheit vor den Kopf zu stoßen. Das neue AUKUS-Bündnis konterkariere die transatlantische Front, so der „Welt“-Autor. Ein weiterer wichtiger Grund für die aktuellen innerwestlichen Misstöne ist, dass Paris mit dem AUKUS-Pakt auf die Erlöse aus dem 2016 geschlossenen Vertrag mit Australien im Wert von über 56 Milliarden Euro verzichten muss. Der damalige Deal galt in Frankreich als „Jahrhundertgeschäft“. Nun ist das in jahrelanger Arbeit und mit viel Mühe aufgebaute Vertrauen dahin. Der Konflikt scheint allerdings nicht auf Frankreich begrenzt zu sein. „Bidens Ohrfeige für Frankreich ist auch eine Kampfansage an die EU“ titeln bereits die ersten Zeitungen. Außerdem hält sich die Begeisterung Großbritanniens und der USA über das deutsch-russische Pipelineprojekt Nord Stream 2 in Grenzen.

2016 war ein entscheidendes Jahr für Machtverschiebungen

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell reagierte auf diesen Rückschlag gefasst und mit Bedauern. Er forderte sodann eine noch engere Abstimmung der europäischen Partner über sicherheitspolitische Fragen. Die geopolitischen Veränderungen in der Welt führen zu neuen Machtperspektiven – auch in und um Europa herum. Die Türkei als geostrategischer Brückenkopf zwischen Europa und Asien wird sorgfältig abwägen und sich für eine Allianz entscheiden. Die Türkei aus der Ära des Kalten Krieges als Vorposten Europas ist passé. Es sieht danach aus, dass sich die Türkei diesmal unabhängiger und viel stärker interessenorientiert als in der Vergangenheit verhalten wird. 2016 war ein einschneidendes Jahr für diesen strategischen Beschluss: In dem Jahr, in dem Großbritannien der EU mit der Brexit-Abstimmung den Rücken kehrte und der fehlgeschlagene Putsch die Türkei erschütterte, wurden wichtige Weichen gestellt. Nach dem Putschversuch war der erste europäische Staatsgast am Bosporus, der der Türkei Beistand versprach, der britische Minister Alan Duncan. Seitdem bewegen sich die türkisch-britischen Beziehungen auf einer neuen strategischen Ebene. Die relativ guten Beziehungen zwischen der Trump- und der Erdogan-Administration scheinen sich zudem auch unter Biden pragmatisch fortzuentwickeln, obwohl es anfangs gar nicht danach aussah. Aber so sieht nun einmal Realpolitik aus. Deutschland, das mit aller Macht dem Brexit entgegentrat, muss jetzt darauf achten, im neuen Kräfteverhältnis nicht unter die Räder zu kommen. Mit dem abrupten und unangekündigten Abzug aus Afghanistan haben die Vereinigten Staaten Europa eine klare Botschaft erteilt. Direkt danach beschlossen die europäischen Regierungschefs und Verteidigungsminister, dass sie eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik benötigen. Berlin und Brüssel nahmen die Niederlage in Afghanistan zum Anlass für eine neue EU-Eingreiftruppe (mit mindestens 5.000 Soldaten), um mit den USA auf Augenhöhe zu sein. Aber auch hier besteht innerhalb der EU Unstimmigkeit. Gerade die Interessen der ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten divergieren von denen der Deutschen und Franzosen.

Türkei ist fest entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen

Ob eine strategische Partnerschaft mit der Türkei eine Option für die EU wäre? Schaut man sich die letzten Vorfälle in Libyen, Syrien, Nordirak, Aserbaidschan und auf dem afrikanischen Kontinent an, bekommt man eine Vorstellung, wo die Partnerschaft angelangt ist.

Wer den Zug noch rechtzeitig bekommt und wer ihn verpassen wird, bleibt spannend. Die Türkei zumindest ist fest entschlossen, den Zug nicht nur nicht zu verpassen, sondern dieses Mal sogar im vordersten Abteil zu sitzen. Des einen Freud, des anderen Leid: Der Entschluss der Türkei ist eine strategische und überparteiliche Richtungsentscheidung, die im Übrigen, und das ist das Grundlegende, unabhängig von der Person eines Politikers oder Regierungschefs ist.

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