Afghanistan: Deutscher auf dem Weg zum Flughafen Kabul angeschossen (dpa)
Folgen

Anspruch und Wirklichkeit

Als nach den Anschlägen vom 9. September 2001 die USA und ihre Verbündeten eine Militärintervention in Afghanistan beschlossen, ging es um Terrorbekämpfung. 2004 sprach der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck davon, die deutsche Sicherheit müsse auch am Hindukusch verteidigt werden. Am Ende blieb der Westen 20 Jahre mit unterschiedlichen und wechselnden Begründungen, aber statt einen nachhaltigen Staatsaufbau zu hinterlassen, übernahm die Taliban noch während des Abzugs der USA und ihrer Verbündeten die Macht im Land. Was dies politisch, wirtschaftlich und für die Situation der Zivilbevölkerung bedeutet, wird sich rasch daran zeigen, welche der zahlreichen Befürchtungen Wirklichkeit werden.

Afghanistan ist abhängig von ausländischer Hilfe

Länder wie China, das sich wegen der Bodenschätze, der Seidenstraße und der Beziehungen der Uiguren in der Region engagiert, Pakistan und Katar werden ihren Einfluss verstärken, während in Europa noch darüber diskutiert wird, ob und in welcher Weise mit den Taliban verhandelt werden soll.

Lange fand hierzulande das militärische und zivile Engagement in Afghanistan keine besondere mediale Aufmerksamkeit mehr. Die größte Mission in der Geschichte der Vereinten Nationen, an der sich 85 Nationen, 15 Weltorganisationen und rund 1700 Nichtregierungsorganisationen beteiligten, dauerte gemessen an den Resultaten und den Kosten zu lang. Die endlose Serie schlechter Nachrichten wie Attentate auf sogenannte „weiche Ziele“ oder Verlustmeldungen der Sicherheitskräfte von bis zu 1000 Toten im Monat erzeugte Ermüdung, Frustration und ein Desinteresse an diesem geschundenen Land. Dies hat sich mit den Berichten über den militärischen Abzug in den vergangenen Wochen und die zurückgelassenen Ortskräfte mit ihren Familien schlagartig verändert. Plötzlich war, für die kurze Zeit des militärischen Abzugs, das Thema Afghanistan wieder medial präsent.

In der Nachlese wird der Einsatz trotz einzelner Erfolge insgesamt negativ gesehen, und dafür gibt es viele Gründe. Die politischen Prioritäten waren widersprüchlich und änderten sich im Laufe der Zeit, ohne dass jeweils Ressourcen ausreichend und richtig eingesetzt wurden. Selbst bei gleichem militärischem Mandat der NATO-Verbündeten interpretierte jedes Land seine Rolle unterschiedlich, ob und wann mit welchen Waffen gegen wen gekämpft werden solle. Analysen und Informationen über die Situation vor Ort wurden oft ignoriert oder schöngeredet. Das politische Scheitern rührt aber auch daher, dass zu wenig auf die politische Ökonomie geachtet wurde, auf die Interessenlagen der regionalen politischen Elite, auch der Bauern, insbesondere beim Drogenanbau.

Nach dem Scheitern

Die Geschichte Afghanistans ist eine des Scheiterns militärischer Interventionen ausländischer Mächte. Welche Lehren aus dem jüngsten Kapitel in dieser traurigen Historie zu ziehen sind, hängt zuerst von der Perspektive ab. Obwohl Afghanistan möglicherweise vor einem neuen Bürgerkrieg steht, mit einer Hungerkatastrophe und einem humanitären Desaster, insbesondere was Menschen- und Frauenrechte betrifft, drehen sich die meisten Diskussionen darum, was die neue Lage für uns bedeutet. In Ländern, in denen vor allem über den Abzug ihrer Soldaten und Soldatinnen und den jeweiligen Ortskräften berichtet wurde, geht es vor allem um diese Menschen und weniger um die Bevölkerung Afghanistans und ihre Zukunft. Für den Westen stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Bringt die neue Lage einen Bürgerkrieg und die damit verbundene Instabilität eine neue Migrationswelle und mehr Terrorismus? Und was bedeutet der Abzug für die Glaubwürdigkeit politischer Versprechen westlicher Regierungen, die Zukunft des NATO-Bündnisses und des Multilateralismus?

Darüber findet momentan eine breite Diskussion statt, die auch Auswirkungen auf die Bundestagswahl und die künftige außenpolitische Ausrichtung einer neuen Regierungskoalition haben wird. Egal, in welcher Farbkonstellation sich diese zusammensetzt, sie sollte künftig einiges anders machen. Für eine lange Liste möglicher Lehren ist hier nicht der Raum. Daher nur zwei Beispiele:

Wer verspricht, für humanitäre Werte einzutreten, muss auch danach handeln

Beim Afghanistanmandat ging es auch um die Verteidigung und den Export westlicher Werte. Vor diesem Hintergrund ist es eine bittere Ironie, dass es nach dem Recht der „Scharia“ verboten ist, Ortskräfte schutzlos zurückzulassen. Für deren Schutz gab es keinen Plan. Erst kurz vor dem Abzug der Bundeswehr setzte sich parteiübergreifend die Auffassung durch, dass Deutschland eine humanitäre Verantwortung für Menschen trägt, die in Gefahr sind, weil sie für Deutsche gearbeitet haben. Noch vor wenigen Wochen wurde vom Auswärtigen Amt auf Hilfeersuchen nicht oder mit Rechtsgutachten geantwortet, die eine deutsche Verantwortung rundweg bestritten. Die „Umstände“ legten eine Hilfe nicht nahe. Das war eine tragische Fehleinschätzung. Auch wenn das öffentliche Interesse an Afghanistan nun wieder nachlässt, dürfen die Schutzbedürftigen dort nicht vergessen werden.

Europa muss für mehr Handlungsfähigkeit sorgen oder sich damit abfinden, Bedingungsnehmer zu sein

Unter Joe Biden hat sich der Ton in den transatlantischen Beziehungen verbessert. Im konkreten Fall beim Abzug in Afghanistan wurden die Verbündeten jedoch weder informiert über das amerikanische Vorgehen, noch ging US-Präsident auf Bitten oder Bedenken der westlichen Partner ein, deren Abhängigkeit von den USA eine Verlängerung ihrer Rettungsmission nicht erlaubte. Statt einer multilateralen Lösung und einer militärischen Partnerschaft handelten die USA unilateral und ausschließlich gemäß ihren innenpolitischen Bedingungen. Dies ist die Realität der transatlantischen Beziehungen, auch wenn nach der Freude über Trumps Wahlniederlage Illusionen bei den europäischen Partnern aufkamen, dass nun alles gut würde.

Europa steht vor einer Reihe großer Herausforderungen, die mit hohen Kosten verbunden sind. Stichworte sind Klimawandel, Pandemie, Digitalisierung, Demografie oder die hohe Schuldenlast, um nur einige zu nennen. Vor diesem Hintergrund wird es Regierungen schwerfallen, nicht nur Finanzierungsverpflichtungen gegenüber der NATO zu erfüllen, sondern auch Akzeptanz für Auslandseinsätze und eine Fortführung der bisherigen Entwicklungspolitik zu finden. Wenn sich Europa gegen außenpolitische Handlungsfähigkeit entscheidet oder sie bisher nicht zustande bringt, weil andere Prioritäten gesetzt werden, verliert es weiteren Einfluss in der Welt. Dafür kann man sich entscheiden, aber dann sollte die Diskussion über die Folgen offen geführt werden, sowohl mit den Menschen daheim als auch mit denen, die an Versprechen des Westens geglaubt haben.

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