Türkische Gastarbeiter auf dem Düsseldorfer Flughafen (Getty Images)
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Meine Füße sind auf zwei Planeten, wenn sie sich bewegen, zerren sie mich mit und ich falle. Zafer Şenocak

60 Jahre sind seit Unterzeichnung des Arbeitsmigrationsabkommens zwischen der Türkei und Deutschland vergangen. Erstmals in der Geschichte Deutschlands erlebten wir die Bemühungen, in den Medien und der öffentlichen Meinung die Leistungen der ersten Generation zu ehren. Es wurden lokale Gedenkzeremonien abgehalten. Die türkische Migration auf die Tagesordnung zu setzen, ist ein Schritt nach vorn, von einer gastarbeiterzentrierten zu einer menschenzentrierten Perspektive. Die postmigrantische Gesellschaft wird heute als Realität akzeptiert. Diese symbolische Auszeichnung wurde jedoch von Deutschland, der Türkei und neuen Generationen unterschiedlich wahrgenommen.

Widersprüche der Politik werden ausgeblendet

Die historischen Ereignisse werden öfters aus heutiger Sicht bewertet werden. Eine verspätete Initiative nach 60 Jahren musste ihre Richtung vielmehr in die Zukunft lenken. Der Erfolg der türkisch-deutschen Gemeinschaft, sich in dieser Zeit ohne Hilfestellung und trotz Unerwünschtheit unbemerkt friedlich anzupassen, ist lobenswert. Diese historische Erfolgsgeschichte hätte eingehend studiert werden müssen. Danach musste eine Diskussionsagenda gesetzt werden, um eine gerechte Zukunft gemeinsam zu gestalten. Dementsprechend sollten die Widersprüche der Integrationspolitik Deutschlands und der Diasporapolitik der Türkei ausführlich diskutiert werden. Ein so wichtiges Thema auf die Rolle der ersten Generation zu beschränken, hat bestehende Widersprüche verschleiert.

Integration ist weitgehend mit Berührungsängsten verbunden

Erstens: Deutsche Politiker*innen zeigen immer noch Zögern und Ängste, das Thema Einwanderung als eines der zentralen gesellschaftlichen Themen öffentlich darzustellen. Es scheint, dass die Gedenkinitiativen als Ergebnis der Initiativen einflussreicher türkischer Personen entstanden sind. Daher wurden Zeremonien von deutschen Kommunalpolitiker*innen zurückhaltend abgehalten. Trotz der innovativen Ambitionen der etablierten Regierung hat sie immer noch Diskurse zu Einwanderungs- und Integrationsfragen verzeichnet. Die Gedenkfeier der ersten Generation sollte im Wesentlichen von den deutschen Repräsentant*innen in der Gesellschaft eingeführt werden. Als Zielgruppe der Feierlichkeiten wurden jedoch leider nur Menschen türkischer Herkunft ausgewählt.

Statt Konkurrenz auf wohlwollende Zusammenarbeit zielen

Zweitens: Es hat sich gezeigt, dass deutsche Politiker*innen die Bemühungen der Türkei, der nach der Einwanderung entstandenen türkisch-deutschen Gemeinschaft nahezutreten, als Konkurrenz bewerten. Die Feierlichkeiten wurden von dem Bemühen dominiert, sie vom Einfluss offizieller türkischer Institutionen zu isolieren. Der Migrationsprozess begann jedoch mit dem gegenseitigen Einvernehmen beider Länder. Beide Länder sollten sich gemeinsam für das Wohlwollen der türkisch-deutschen Gemeinschaft einsetzen.

Teilnahme und Mitbestimmung sind für die Zukunft entscheidend

Drittens: Die Fokussierung auf historische Aspekte der Migration ist nicht allein für die Zukunft entscheidend. Der Migrationsvorfall hat schon längst das Bahngleis 11 in München vor 60 Jahren überschritten. Für eine gute Politik ist es notwendig, im Lichte der Lebensrealitäten über eine gemeinsame und friedliche Zukunft nachzudenken.

Deutsch-Türk*innen als Ort der Transkulturalität

Viertens: Es lässt sich feststellen, dass Deutschland und die Türkei noch nicht in der Lage sind, die türkisch-deutsche Gemeinschaft aus einer transnationalen Perspektive zu betrachten. Gedenkprogramme hätten ein guter Anlass sein sollen, die Politik beider Länder im Lichte der Realitäten zu überdenken. Denn das gemeinsame Merkmal der Politik von „Integration und Diaspora“ besteht darin, die Gemeinschaft in die gewünschte Richtung zu lenken.

Die Bildung einer Migrationsgemeinschaft hängt mit der Harmonisierung der von den Menschen mitgebrachten Ressourcen mit den Bedingungen der neuen Gesellschaft zusammen. In den Werten und Verhaltensmustern, welche die multikulturelle Orientierung von Individuen ausmachen, sind natürliche Widersprüche und Ambivalenzen erlebbar. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, die Bemühungen der Gemeinschaft, neue Balancen in ihrer Identität und Zugehörigkeit herzustellen, aufmerksam wahrzunehmen.

Realpolitik soll an die Stelle einer Metapolitik

Beide Länder schliefen jahrelang, und als sie aus einem tiefen Schlaf erwachten, begannen sie mit der Umsetzung einer Migrationspolitik, die wir „Politik der Subjektabwesenheit“ nennen können. Deutschland hat das Ideal einer homogenen Nation als Denkmaxime immer noch nicht überwunden. Es setzt auf Einflüsse in Bezug auf Werte und Verhaltensweisen der Deutsch-Türk*innen. Die Türkei hingegen hatte lange Zeit einen pragmatischen Blick auf Migration und überließ die Gemeinschaft kulturell sich selbst. Als sie aufwacht, ist sie dem Ideal verfallen, eine internationale Gemeinschaft zu schaffen, die mit ihr agiert.

Dieses historische Ereignis lehrt, dass Staaten sich nicht hinter der Geschichte verstecken sollten. Daher sollte für die Zukunft die Lebensrealität der türkisch-deutschen Gemeinschaft als wesentliche Grundlage berücksichtigt werden. Die Gemeinschaft schlägt ihre Wurzeln anders als gedacht. Es scheint, dass eine neue Identität und Kultur mit transnationalen Bindungen aufgebaut wird. Daher ist der Umstand der Postmigration im Hinblick auf den Generationenwechsel und die Veränderung der Gesellschaftsstruktur zu sehen. Die nächsten zehn Jahre werden zeigen, dass die Integration der „Europäischen Türkischen Gemeinschaft“ einen gesellschaftlichen Wandel in Deutschland erfordert. Dieser wird mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Fortschritte der Gemeinschaft und das erfolgreiche Hineinrücken an die Gesellschaftsmitte soziale Spannungen mit sich bringen.

In diesem Rahmen sollte die Politik beider Länder nutzenorientierte Praktiken aufgeben und sich einer menschenzentrierten Perspektive zuwenden. In dem Wunsch nach einer gerechten und friedlichen Zukunft der Gemeinschaft Deutschlands und der Türkei, auf deren Grundlage sie Beiträge leisten sollen. Deutschlands Begleitung des Postmigrationsprozesses durch die Verhinderung von Diskriminierung und die Förderung des friedlichen Zusammenlebens wird den Aufbau des neuen gesellschaftlichen Konsenses erleichtern. Der Verlauf des Postmigrationsprozesses wird im Kern von der Fähigkeit der neuen Generationen der Deutsch-Türk*innen bestimmt sein, die Gesellschaft mitzugestalten.

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