22. Juli 2022, Istanbul, Türkiye: Der ukrainische Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov, der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UNO) Antonio Guterres, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar nehmen in Istanbul an der Unterzeichnungszeremonie einer Initiative für den sicheren Transport von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen teil. (AFP)
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Während die globale Nahrungsmittelinflation und die in vielen Teilen der Welt verbreitete Unterernährung in den letzten Jahren immer stärkere Auswirkungen haben, konnten die Bemühungen zur Lösung dieser Probleme in der Praxis bisher nicht umgesetzt werden. Russlands Operation in der Ukraine und der seit nunmehr mehr als fünf Monate andauernde Konflikt haben die bestehenden Gefahren für die Nahrungsmittelsicherung sogar noch verschärft. In dieser Hinsicht stellen das letzte Woche in Istanbul im Beisein von Türkiye unterzeichnete Abkommen über Getreideausfuhren und das gemäß diesem Abkommen am 26. Juli in Istanbul eröffnete gemeinsame Koordinierungszentrum eine äußerst bedeutsame Entwicklung nicht nur für die Ukraine dar, sondern auch für die globale Nahrungsmittelsicherung.

Abkommen über Getreidekorridor in Istanbul unterzeichnet

Am Ende eines monatelang währenden Prozesses, der auf Initiative und unter der Schirmherrschaft von Türkiye in Gang gebracht wurde, leisteten die Parteien am 22. Juli in Istanbul ihre Unterschrift unter das Abkommen „Initiative zur sicheren Ausfuhr von Getreide und Lebensmittel aus ukrainischen Häfen“. Bei der Zeremonie wurde das Dokument über die Verschiffung von Getreideprodukten aus ukrainischen Häfen für Türkiye von Verteidigungsminister Hulusi Akar, für Russland von Verteidigungsminister Sergey Shoygu, für die Ukraine vom Minister für Infrastruktur Aleksandr Kubrakov und für die Vereinten Nationen von UN-Generalsekretär Antonio Guterres unterzeichnet. Mit der erzielten Übereinkunft können in nächster Zeit wieder Getreide und ähnliche Lebensmittel aus den ukrainischen Häfen Chernomorsk, Yuzhny und Odessa ausgeführt werden. Durchführung und Kontrolle des Transportprozesses erfolgen aus einem in Istanbul eingerichteten Zentrum.

Bedeutung des Abkommens für die Ukraine

Die von Russland am 24. Februar in das Territorium der Ukraine gestartete Invasion und der seitdem andauernde Konflikt gehen zweifellos mit den größten Zerstörungen für die Ukraine seit dem Zweiten Weltkrieg einher. Infolge dieses Krieges, dem bereits Tausende von Soldaten und Zivilisten zum Opfer gefallen sind, mussten 10 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge, die in europäische Länder geflohen sind, hat bereits 6 Millionen überstiegen. Auch Russland zahlt mit den gefallenen Soldaten und den Folgen der verhängten Wirtschaftssanktionen einen hohen Preis für diesen Krieg. Zu den wirtschaftlichen Folgen des Krieges für die Ukraine und Russland gehören ebenso die Schwierigkeiten, mit denen diese beiden Länder konfrontiert sind, Getreide und ähnliche landwirtschaftliche Produkte, die einen bedeutenden Platz in den Exporten dieser Staaten einnehmen, auf den Weltmarkt zu transportieren. Für die Ukraine ist dieser Umstand ein noch ernsteres Problem, da der Abtransport über das Schwarze Meer bedingt durch die russische Besetzung der Südostküste des Landes behindert wurde. Zudem sind Anbau, Ernte und Transport von Getreide im Land bedingt durch russische Angriffe und die Verlegung von Minen nahezu unmöglich geworden.

Bedeutung des Abkommens für die globale Nahrungsmittelsicherung

Die Folgen der globalen Erwärmung, die seit mehr als zwei Jahren andauernde COVID-19-Pandemie, die jüngste Verknappung landwirtschaftlicher Produkte in Südamerika sowie Engpässe in den globalen Logistiknetzwerken und die weltweit stetig steigende Nachfrage stellten bereits Bedrohungen für die globale Nahrungsmittelsicherung dar. Der Russland-Ukraine-Krieg, der am 24. Februar begann, hat diese Bedrohungen schlagartig und ernsthaft verschärft. So hat mit diesem Krieg das insbesondere in Afrika und dem Nahen Osten aufgrund der weltweiten Nahrungsmittelinflation und -knappheit bereits zuvor beklagte Problem der Mangelernährung eine bedrohliche Dimension erlangt.

Vor dem Krieg deckte die Ukraine fast die Hälfte des globalen Sonnenblumenöl-Marktes ab und hatte darüber hinaus einen Anteil von 12 Prozent am Gerstenbedarf sowie von 10 Prozent am Weizenbedarf. Zusammen mit Russland beträgt der globale Anteil am Markt für Sonnenblumenöl 73 Prozent, bei Weizen 34 Prozent und bei Gerste 27 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass derzeit über 20 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Häfen gelagert werden, war die Lösung dieses Problems von entscheidender Bedeutung für Länder, die ernsthafte Probleme hinsichtlich der Nahrungsmittelsicherung haben und auf große Mengen des ukrainischen Getreides angewiesen sind. So gesehen wurde der konkreteste Schritt zur Lösung dieses Problems letzte Woche in Türkiye unternommen.

Die Rolle von Türkiye bei der Öffnung des Getreidekorridors

In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Erdoğan vor der offiziellen Zeremonie in Istanbul gab der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, eine Erklärung zum Getreidelieferungsabkommen ab und sagte: „Herr Präsident Erdoğan und die Mitglieder der türkischen Regierung, ihre Vermittlung und Beharrlichkeit waren von entscheidender Bedeutung in jeder Phase dieses Prozesses."

Wie das Abkommen unterstreicht, hat Türkiye eine andere Sichtweise auf den Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Fast jedes Land im Westen konzentriert sich aktuell auf die militärische Unterstützung der Ukraine und das gegen Russland verhängte Wirtschaftsembargo. Da aber die militärische Unterstützung der Ukraine zu spät eintraf und noch dazu unzureichend ist, konnte das Land Russland nicht davon abhalten, ukrainisches Territorium zu besetzen. Darüber hinaus konnte die territoriale Expansion Russlands in der Ukraine nicht gestoppt, geschweige denn ins Gegenteil verkehrt werden, obwohl die verhängten Wirtschaftssanktionen die Kosten dieses Krieges stark in die Höhe getrieben haben. Deshalb sind die optimistischen Prognosen beider Seiten, die ein Kriegsende innerhalb von Wochen prognostizierten, auf Monate und Jahre korrigiert worden. Dabei setzt sich Türkiye in zweierlei Hinsicht von Drittstaaten ab.

Zunächst einmal ist sich Türkiye bewusst, dass ein Szenario für die baldige Beendigung des Krieges durch völlige Erschöpfung einer Seite Jahre in Anspruch nehmen kann. Auch deshalb zeigte Türkiye Entschlossenheit und unternahm Schritte, um eine diplomatische Lösung zu finden, die den Krieg sofort beenden würde, woraufhin die türkische Regierung bereits im vergangenen März die Außenminister Russlands und der Ukraine im vergangenen März zusammenbrachte. Die nunmehr am 22. Juli in Istanbul unterzeichnete Vereinbarung zur Eröffnung eines Getreidekorridors bzw. das daraufhin am 26. Juli wiederum in Istanbul eröffnete gemeinsame Koordinierungszentrum sind der zweite Aspekt, der die abweichende Sichtweise von Türkiye deutlich macht. Während Türkiye also zahllose Anstrengungen unternimmt, den Krieg zu beenden und der dadurch verursachten globalen Krise in der Nahrungsmittelsicherung Einhalt zu gebieten, nutzt das Land seine exzellenten diplomatischen Beziehungen, die es sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine unterhält. Folglich wird mit dem Abkommen die Ukraine nicht nur in die Lage versetzt, das in ihren Häfen blockierte Getreide zu exportieren, sondern es ist auch eine konkrete Lösung für die bedrohte globale Nahrungsmittelsicherung gefunden worden.

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