EU-Ballon (dpa)
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Es liegt wohl in der Natur des Menschen, aber doch besonders in der des Österreichers und noch mehr in der Natur des Wieners, grundsätzlich über alles zu motschkern (= zu schimpfen). Motschkern ist viel amüsanter, als etwas gut zu finden und außerdem gut für die Gesundheit, sofern man unter niedrigem Blutdruck leidet. Die Europäische Union gibt ja so viel zum Motschkern her, es ist eine wahre Freude. Es ist faktisch egal, was sie tut oder nicht tut, garantiert ist es falsch. Tut sie nix, so passt es nicht. Tut sie doch irgendwas, dann kann es nur zum Nachteil der Bürger sein! Man erinnere sich nur an die berühmt-berüchtigte Gurkenverordnung, in der die Krümmung von Salatgurken der Klasse „Extra“ geregelt wurde. Ich selbst nehme mich als gebürtige und sozialisierte Wienerin von der Lust am Motschkern nicht aus. Vielleicht ist diese Eigenschaft sogar im bunten Wiener Genpool verankert. Was praktisch wäre, denn dann hätte ich eine Rechtfertigung. Wissen ist Macht, Nicht-Wissen macht auch nix

Die Lust am Motschkern kombiniert mit Unwissenheit bringt jede Menge „Experten“ hervor. Ich selbst gehörte im Jahr 1994 auch noch zu dieser Gruppe, weshalb ich damals gegen den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union gestimmt hatte. Heute bin ich übrigens froh, dass nicht alle so dumm waren.

Es ist leider so. Je inkompetenter man ist, desto eher ist man davon überzeugt, über Wissen und Können zu verfügen. Der Dunning-Kruger-Effekt ist immer und überall. Das ist betreffend der Europäischen Union nicht anders. Kaum einer weiß was, aber motschkernde Experten sind fast alle. Es beginnt schon mal damit, dass die Institutionen gerne verwechselt werden. Vom Unterschied zwischen einer Richtlinie und einer Verordnung will ich erst gar nicht beginnen. Mir scheint auch, dass gerade jetzt während der Covid-19-Krise Berichte über Handlungen der Europäischen Kommission in den nationalen Medien noch seltener sind als in normalen Zeiten. Was erwarten wir eigentlich von der Europäischen Union?

Stellen wir uns vor, die Europäische Kommission hätte eine Verordnung ausgegeben, die flächendeckende Ausgangssperren zur Eindämmung von Covid-19 zum Ziel gehabt hätte. Bevor sich die Bürger daran gehalten hätten, hätte man sich eher flächendeckende Gelbwesten-Proteste à la Frankreich vorstellen können.

Gefühlt wollen wir von der Europäischen Union alles, aber ganz sicherlich nicht bevormundet werden. Eine analoge Ausgangssperren-Anordnung der eigenen, nationalen Regierung nehmen wir zwar auch nicht ganz ohne Motschkern hin, halten uns aber weitestgehend daran.

Noch mehr empfindet der durchschnittliche Wähler die nationalen Akteure als Helden der Stunde und würde diesen deshalb noch lieber das schenken, was für Politiker den Daseinszweck definiert – seine Stimme am Wahltag.

Viribus Unitis

Nein, eine wie zuvor skizzierte Verordnung der Europäischen Kommission wäre rein rechtlich gar nicht möglich gewesen. Was bei genauerem Nachdenken eigentlich schade ist. Je größer die Herausforderung, desto mehr Zusammenhalt ist gefordert. Oder eben Viribus Unitis („mit vereinten Kräften“), wie schon am Wappen des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. zu lesen war.

Dennoch ist auch die EU, im Speziellen die Europäische Kommission, nicht untätig (gewesen).

Zum einen dürfen sich alle, die aufgrund der Quarantäne eine gebuchte Reise nicht antreten können, auf bereits bestehende Verordnungen verlassen. Fluglinien müssen beispielsweise dank der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 bei gestrichenen Flügen innerhalb von sieben Tagen den Ticketpreis zurückerstatten.

Auch bei Pauschalreisen sind wir dank der Richtlinie (EU) 2015/2302 auf der sicheren Seite. Zum anderen war und ist die Europäische Union auch betreffend Covid-19 keine untätige Pflaume. Man höre und staune! Die EU-Kommission hatte den Mitgliedsstaaten bereits Ende Januar 2020 Hilfe bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten angeboten! Warum genau dieses Angebot von Regierungsvertretern der Gesundheitsministerien abgelehnt worden ist, dürfen wir uns selbst überlegen. SURE - Support mitigating Unemployment Risks in Emergency

Würde ich als mittlerweile leidenschaftliche Europäerin nicht der EU-Kommission auf Instagram folgen, ich hätte beispielsweise mit Sicherheit SURE verpasst: 100 Milliarden Euro werden unter dem Namen SURE zur Verfügung gestellt, damit Arbeitskräfte bei Kurzarbeit ihr Einkommen nicht verlieren und Unternehmen die Krise überstehen.

Die EU mit ihren Werten und Ideen ist mehr als nur ein paar Verordnungen und Förderungen. Sie ist eine Wertegemeinschaft, eine Hüterin und Erhalterin des Friedens und der Freiheit. Dass sie ihre Aufgaben nicht so wahrnehmen kann, wie es viele gerne hätten, liegt an ihren Mitgliedern. Der Idee von Professor Georg Kremnitz, eine kleinere, aber dafür stärkere EU zu kreieren, die vielleicht sogar einmal in einer „Europäischen Republik" mündet, kann ich einiges abgewinnen. Vor allem wenn ich an den Brexit oder an Ungarn denke.

Denn egal, ob wir uns einem Virus oder dem Klimaschutz stellen müssen: Gemeinsam werden wir es eher schaffen.

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