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Sei es die Streitigkeit über millionenschwere Hilfspakete oder die Frage nach dem Umgang mit China: Die Pandemie-Krise hat innerhalb der EU Spannungen ausgelöst. Welche wichtigen Aufgaben kommen nun mit der EU-Ratspräsidentschaft auf Deutschland zu?

Die deutsche EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 wird die letzte unter Angela Merkel sein. Im Herbst ihrer Kanzlerschaft wird sie den Integrationsprozess in ihrem womöglich entscheidenden Moment prägen können. In Zeiten der Pandemie-Krise sind die Herausforderungen immens. Doch Merkels neue Wende in der EU-Politik gibt Anlass zum Optimismus.

Die Erwartungen an Deutschland sind hoch - zu Recht. Zwar ist die Rolle der EU-Ratspräsidentschaft nicht mehr die gleiche wie in der Vergangenheit. Mit dem Lissaboner Vertrag sind die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs unter der Regie des Präsidenten des Europäischen Rats (Charles Michel) für den EU-Block federführend geworden. Doch basiert die Rolle der Bundesrepublik nicht primär auf dem formalen Status, sondern vielmehr auf ihrer faktischen Funktion als zentrale Gestaltungsmacht der EU. Das Problem der letzten Jahre war jedoch, dass Berlin nur sehr eingeschränkt bereit war, diese Funktion zu erfüllen. Deutschland wollte die EU weder führen, noch den Status quo in der europäischen Integration überwinden.

Die Reformen der Eurozone, die Weiterentwicklung der europäischen Verteidigungspolitik oder sogar eine ambitionierte EU-Klimapolitik erfreuten sich bestenfalls einer halbherzigen Unterstützung Berlins – oder scheiterten an seiner Passivität. Der französische Präsident Emmanuel Macron könnte davon ein Lied singen. Trotz der gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung, die mit einem großen Pomp im Juni 2018 in Merseburg unterzeichnet wurde und ein Reformprogramm für die EU skizzierte, blieben seine Avancen Richtung Merkel weitgehend unbeantwortet. Um sich auf den Reformpfad zu begeben, hätte Deutschland über seinen eigenen Schatten springen müssen. Es hätte seine bewährten Prinzipien, etwa in der Fiskalpolitik (schwarze Null, keine Transferunion), aufweichen oder gar aufgeben müssen. Dazu war Merkel nicht bereit - bis die Pandemie-Krise kam.

Die Wende, die die deutsche Europapolitik in den letzten Monaten hingelegt hat, ist möglicherweise die bisher wichtigste politische Folge der Pandemie-Krise. Noch vor einem halben Jahr sorgte die Diskussion über einen beschiedenen Eurozonen-Haushalt in Höhe von ca. 30 Milliarden Euro für Irritationen. Heute ist von einem sage und schreibe 750 Milliarden Euro starken Paket (inklusive nicht rückzahlbarer Geldtransfers) zur Ankurbelung der europäischen Wirtschaft die Rede. Der entsprechende Vorschlag der EU-Kommission wäre ohne einen gemeinsamen deutsch-französischen Vorstoß vom Mitte Mai nicht möglich gewesen. Seine fundamentale Bedeutung liegt im Umdefinieren des Prinzips der finanziellen Solidarität in der EU. Hat sich Berlin jahrelang dagegen gesträubt, für gemeinsame Schulden in der EU einzustehen und direkte Zahlungen für wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten über den bestehenden EU-Haushaltsrahmen hinaus zu akzeptieren, so ist genau dies möglich geworden. Selbst wenn das neue Instrument nur für die Bekämpfung der Pandemie-Krise bestimmt ist und nicht als ein permanenter Mechanismus, gleicht dieses Umdenken einer wahren europapolitischen kopernikanischen Wende.

Die konkrete Ausgestaltung des „Neue Generation“ genannten Fonds, der den regulären EU-Haushalt ergänzt, wird die wichtigste Aufgabe der deutschen EU-Präsidentschaft sein. Es wird dabei um seine Größe, um den Verteilungsschlüssel, um das Verhältnis zwischen direkten Transfers und Krediten sowie um die neuen Einnahmequellen der EU gehen. Die Spannungen sind vorprogrammiert. Die nördlichen Länder (Schweden, die Niederlande, Finnland) und Österreich lehnen das generöse Angebot der Kommission ab und wollen die nicht rückzahlbaren Hilfen drastisch reduzieren. Die Mittel- und Osteuropäer bestehen darauf, dass nicht nur die am stärksten von der Pandemie betroffenen Staaten, sondern auch die Länder, die auch sonst wirtschaftlich schwächer sind (sprich: sie selbst), von den neuen Mitteln kräftig profitieren sollen. Während einige darauf pochen, dass Staaten, die Probleme mit Rechtsstaatlichkeit haben, der Zugriff auf die Gelder erschwert wird, wollen die Regierungen in Warschau und Budapest davon nichts hören. Die Zeit drängt und Deutschland wird einen Kompromiss schmieden müssen. Mit der Frage, ob der Bundesrepublik genau das gelingt, steht und fällt der Erfolg ihrer Ratspräsidentschaft.

Im Vergleich mit dieser Mammutaufgabe verblassen andere Themen. Deutschland wollte die Beziehungen zu China neu justieren und einen EU-China-Gipfel in Leipzig veranstalten. Der Plan wurde abgesagt. China wird aber einer der härtesten Brocken für die EU - und speziell für Deutschland - bleiben. Die Pandemie-Krise hat neue Seiten der „strategischen Rivalität“ mit Beijing offenbart: von der gefährlichen Abhängigkeit Europas von chinesischen Medikamentenlieferungen, über aggressive chinesische Propaganda, bis hin zu der Notwendigkeit, strategische Sektoren der europäischen Wirtschaft gegen feindliche Übernahmen und unlauteren Wettbewerb zu schützen. Egal, was Berlin in den kommenden Monaten auf die EU-Agenda setzt – Industrie-, Wettbewerb- oder Steuerpolitik, immer wird China mit dabei sein. Steht nach der fiskalpolitischen Wende eine neue fundamentale Umkehr in der europäischen Politik bevor? Vieles deutet darauf hin, dass die Zeit der immer größeren Interdependenz mit China vorbei ist und die EU viel mehr in eigene strategische Autonomie wird investieren müssen – auf Kosten der Verflechtungen mit dem Reich der Mitte. Auch dies stellt für Deutschland, das wie kein anderes EU-Land wirtschaftliche enge Beziehungen zu China unterhält, die Welt auf den Kopf und erfordert ein strategisches Umdenken.

Der Erfolg der deutschen EU-Präsidentschaft wird somit im Wesentlichen davon abhängen, wie dieser Prozess der Anpassung Deutschlands an die neue europäische Realität erfolgt, in der eine weitere Duldung des Status quo eine fatale Option wäre. Die EU erfordert einen Ruck und es ist ein Glücksfall, dass Berlin ihn mit der Merkel-Macron-Initiative eingeleitet hat. Die nächsten Monate werden nicht nur für die Stabilisierung der EU, sondern auch für die Entwicklung eines neuen europapolitischen Konsenses in Deutschland von großer Bedeutung sein. Dieser Konsens muss den Weg für Deutschlands Rolle als europäische Gestaltungsmacht bereiten, wenn die Merkel-Ära endgültig zu Ende geht.

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