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Deutschland 1993

Beim Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen im Mai 1993 starben fünf Menschen, 17 weitere wurden teils schwer verletzt. Die Opfer waren türkischstämmig, die Täter vier junge Männer aus Deutschland, zwei davon aus dem rechtsradikalen Milieu. Unmittelbar davor und danach gab es im Osten und im Westen des gerade wiedervereinigten Deutschlands weitere Anschläge auf Ausländer und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe; Asylunterkünfte wurden angegriffen, und es gab Fälle, in denen Anwohner offen ihre Sympathie mit den Gewalttätern ausdrückten.

Beim Umgang mit den Gewaltverbrechen in den frühen 1990er Jahren boten Polizei, Justiz und Politik reichlich Anlass zum Fremdschämen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erschien z.B. nicht zum Trauergottesdienst, was sein Regierungssprecher damit erklärte, dass „Beileidstourismus“ vermieden werden sollte. Eklatantes Versagen staatlicher Stellen und gewählter Repräsentanten steht in Zusammenhang mit dem moralischen Versagen von Teilen der Gesellschaft, die sich am Verhalten öffentlicher Personen orientieren, die den Gleichheitsgrundsatz in Zweifel ziehen, indem sie rassistische Sprache und Gewalt tolerieren, verharmlosen, rechtfertigen oder gar schüren.

Bei der Suche nach Erklärungen für solche Entwicklungen verbietet es sich, pauschal zu urteilen und zu verallgemeinern, weil jede handelnde Person individuell denkt und fühlt. Der Zeitgeist, das politische Klima und die öffentliche Meinung waren allerdings geprägt von Narrativen, über die es sich lohnt im Vergleich von damals und heute nachzudenken.

Für viele politische Kommentatoren ist dabei zentral, dass nur zwei Tage vor dem Mordanschlag ein Zeichen vom Deutschen Bundestag gesetzt wurde: Mit der Verschärfung des Asylrechts und der Einführung der sogenannten sicheren Drittstaatsregelung schottete sich Deutschland gegen Zuwanderung von Menschen in Not ab und verlagerte die Probleme an die Außengrenzen der Europäischen Union. Damals verhielten sich führende Politiker nicht anders als diejenigen in Mittel- und Osteuropa, die heute für ihre Ignoranz und Blockade einer europäischen Migrations- und Asylpolitik kritisiert werden. Nach innen signalisierte die Mehrheit der Parlamentarier, dass ihnen Humanität und die Einhaltung internationaler Verpflichtungen weniger wichtig sind als die Senkung der Zahlen von Menschen in Not, die nach Deutschland kommen, um Schutz zu suchen. Inwiefern eine solche Debatte und das Votum, das daraus folgte, Ausländerfeindlichkeit generell befördert, hatten sie entweder nicht im Blick oder nahmen es billigend in Kauf.

Licht und Schatten

Seit dem moralischen Tiefpunkt nach Solingen hat es auch eine gesellschaftliche Gegenbewegung gegeben. Dabei ging es um die konkrete, praktische Unterstützung der Opfer, ihnen eine Stimme zu geben und Respekt zu zeigen, medizinisch, psychologisch und materiell zu helfen und sicherzustellen, dass ihr Leid nicht in Vergessenheit gerät. Es ging auch um Aufarbeitung, Erforschung der Ursachen und eine andere politische Kultur. Jedes Jahr wird auf vielfältige Weise der Opfer gedacht. Es gibt Mahnwachen, Erinnerungsorte, Kunstwerke, Filmdokus, Reden und Artikel, so wie jetzt am Jahrestag gegen das Vergessen. Die politische Bildung wurde ausgebaut, Integration hat heute einen anderen Stellenwert und politischem Extremismus wird entschiedener entgegengetreten als in der Vergangenheit.

Mevlüde Genç, deren fünf in Solingen ermordete Familienmitglieder in der Türkei beigesetzt wurden, erhielt 1996 das Bundesverdienstkreuz für ihren Einsatz um Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen.

Auch wegen der Zunahme rechter Gewalt gründete sich die Türkische Gemeinde in Deutschland mit dem Ziel, für die Belange türkischstämmiger Menschen einzutreten, Zeichen für Verständigung zu setzen und den Ursachen von Alltagsrassismus zu begegnen.

Es geht darum, Gleichheit, den Schutz von Minderheiten und Solidarität mit politisch Verfolgten in der Mitte der Gesellschaft zu verankern, um sensibel und wehrhaft gegen Extremismus und politische Gewalt aufzutreten und die im Grundgesetz garantierten Werte zu verteidigen. Ein positives Beispiel dafür, dass gesellschaftliches Lernen möglich ist, zeigte sich im Herbst 2015 in dem breiten gesellschaftlichen Konsens, der sich in einer „Willkommenskultur“ für politisch Verfolgte ausdrückte. Eine parteiübergreifende gesellschaftliche Mehrheit unterstützte die Bundesregierung, die sich ihrer humanitären Verantwortung bewusst war und entsprechend handelte.

Deutschland 2021

Deutschland im Jahr 2021 bietet ein gemischtes Bild: Das politische Klima hat sich im Vergleich zu den frühen 1990ern insgesamt sicherlich verbessert. Gleichzeitig weist die aktuelle Kriminalitätsstatistik einen Höchststand an rechten Straftaten aus.

Auch wegen der positiven Entwicklung in Deutschland steigt der Anteil an Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund weiter kontinuierlich an. Sie erwarten sich von ihrem Leben hier Sicherheit, Freiheit und Lebenschancen. Für eine überwältigende Mehrheit in Deutschland erscheint es unerträglich, was vor 28 Jahren geschah, wie darüber gesprochen und wie mit rechter Gewalt umgegangen wurde. Gerade das aktive Eintreten für eine nicht-diskriminierende Sprache, für Gleichheit und Gerechtigkeit provoziert eine Gegenbewegung zur „politischen Korrektheit“, wie sie sich auch in anderen Ländern zeigt und zu gespaltenen Gesellschaften geführt hat. Verglichen mit den USA ist Deutschland wohl weniger polarisiert, und auch die Mitte ist breiter. Opfern von Gewalt und Diskriminierung ist das jedoch nur ein schwacher Trost.

Migrantische Aufstiegs- und Erfolgsgeschichten im Sport oder der Wissenschaft stehen nicht minder spektakuläre Fälle gegenüber, in denen Clankriminalität, Volksverhetzung oder Ehrenmorde Stereotypen des kriminellen Ausländers bedienen. Solche Fälle werden von rechten Aktivisten genutzt, um zu verallgemeinern, zu stigmatisieren und durch Emotionalisierung von Politik Ressentiments zu schüren. In Deutschland ist mit der AfD eine Partei im Bundestag vertreten, die mittlerweile vom Verfassungsschutz beobachtet wird, nachdem sie sich ideologisch zunehmend nach Rechtsaußen orientiert, während sie in ihrer Anfangszeit auch Angebote für konservative Mittewähler bot und sich in ihrer Selbstdarstellung gerne als „normal“ bezeichnet.

Rechten Organisationen und Strukturen gelingt es, Menschen zu mobilisieren, die sich gegen ein weltoffenes, tolerantes Deutschland wenden, weil sie sich vor Fremdem fürchten und sich auf der Verliererseite sehen. Solingen ist heute ein Symbol dafür, was passieren kann, wenn Politik und Mehrheitsgesellschaft nicht entschlossen gegen den rechten Rand auftreten. An Menschenverachtung ist nichts normal. Auch deswegen muss an dieses Verbrechen weiter erinnert werden, um uns allen bewusst zu machen, was auf dem Spiel steht.

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