Zolgensma-Patient Michael (dpa)
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Für die verzweifelten Eltern todkranker Babys ist eine neue Gentherapie ein Hoffnungsschimmer in dunkelsten Zeiten. Aber was, wenn das Mittel noch nicht zugelassen ist, wenn es mit zwei Millionen Euro pro Dosis das teuerste Medikament der Welt ist? Der Schweizer Pharmahersteller Novartis verlost ab Montag (3. Februar) Behandlungen für 100 Säuglinge und Kleinkinder bis 2 Jahren. Bewerben konnten sich Familien aus aller Welt, deren Kind an spinaler Muskelatrophie (SMA) leidet, und bei denen keine andere Therapie hilft. Ist das eine Überlebenslotterie, wie Kritiker sagen?

Marina Mantels Sohn Michael wird 2018 mit SMA geboren. „Sechs Wochen dachten wir, er wäre kerngesund, dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr“, erzählt sie der Deutschen Presse-Agentur.

Im Krankenhaus dann die niederschmetternde Diagnose: SMA. Die Familie ist am Boden zerstört. Dann bekommt Michael das erst 2017 zugelassene SMA-Medikament Spinraza der US-Firma Biogen. Es hilft vielen, aber nicht Michael. „Er bekam Lungenprobleme, konnte Schleim kaum abhusten“, sagt Mantel. Knapp 50 Kinder werden in Deutschland wie Michael mit der schlimmsten Form von SMA im Jahr geboren.

Dann hört Mantel von Zolgensma von Novartis, das im Mai 2019 in den USA zugelassen wird. Sie kämpft, will eine Härtefallausnahme, wird abgelehnt, startet eine Spendenaktion, dann lenkt ihre Krankenkasse doch ein.

Michael bekommt das Medikament im September 2019 ausnahmsweise, obwohl es noch nicht zugelassen ist. „Es geht ihm gut, er kann sich jetzt selbstständig umdrehen, er kann sitzen“, sagt sie heute. An eine solche Entwicklung sei vorher nicht zu denken gewesen.

„Andere Eltern sind auch verzweifelt und kämpfen“, sagt Mantel. Sie kritisiert, dass die Zulassung von Zolgensma in Europa auf sich warten lässt. „Natürlich ist eine Lotterie nicht richtig, aber wenigstens macht Novartis irgendetwas“, sagt sie.
Rund 200 kleine Patienten wurden in den USA bislang mit Zolgensma behandelt.

Auf das Losverfahren kam Novartis nach eigenen Angaben mit einem Ethikrat, weil es die Therapie weltweit so schnell wie möglich zur Verfügung stellen wollte, sagt eine Novartis-Sprecherin.

Nur fragen Betroffene: Warum stellt Novartis nicht statt 100 Behandlungen für knapp zwei Millionen Euro pro Dosis 1000 Behandlungen zu einem niedrigen Preis bereit? Die Herstellungskapazitäten seien begrenzt, sagt die Sprecherin. Mehr als 100 Dosen könne das einzige Werk in Illinois in den USA in diesem Jahr nicht zusätzlich zu den erwarteten Bestellungen liefern .

Für den Preis pro Dosis waren die Kosten für das andere Medikament für SMA-Kinder ausschlaggebend, sagt Dave Lennon, Chef des Herstellers AveXis, der zu Novartis gehört. Zolgensma, das nur einmal verabreicht wird, sei über zehn Jahre gerechnet halb so teuer wie Spinraza, das alle vier Monate gespritzt werden muss.

Um allen Patienten eine faire Chance zu geben, sei nur das Zufallsprinzip in Frage gekommen, so die Novartis-Sprecherin. „Es ist ein Dilemma“, räumt sie ein. „Wir haben einfach nicht so viele Dosen zur Verfügung wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es vorerst an Alternativvorschlägen.“

Der Medizinethiker Norbert W. Paul widerspricht. Ethischer wäre es gewesen, klare Kriterien als Voraussetzung für die Verabreichung des Medikamentes festzulegen, sagt der Professor der Universitätsmedizin Mainz. Zum Beispiel, ob es für die Kinder alternative Therapien gebe, ob eine Klinik in der Nähe sei, die mit Gentherapie umgehen könne, ob eine Nachsorge und im Notfall auch eine Krisenversorgung möglich sei.

Das Losverfahren lehnt er ab. „Novartis unterläuft mit dieser Abgabe aus Mitleid die Zulassung, um einen Fuß im Markt zu haben und so Druck zu machen, dass die Zulassung gar nicht mehr erforderlich zu sein scheint“, sagt er.

Es sei wie eine verdeckte Marketingkampagne. Es entstehe der Eindruck, als handele es sich bei dem Medikament um eine Zauberkugel, und als sei die Standardtherapie mit Spinraza schlechter oder eine Billigvariante. „Dem ist ja gar nicht so“, betont Paul. „Aber natürlich greifen verzweifelte Eltern nach jedem Strohhalm. Um so bedenklicher ist eine Verlosung.“

Ablehnung kommt auch vom Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), Joachim Sproß. „Das ist eine Dilemma-Situation auf Kosten der Eltern“, sagt er.

„Wenn jemand die medizinische Indikation hat, muss er Zugang zu dem Medikament haben“, verlangt er. Gesundheitsministerium, Zulassungsstellen, Ärzte und Eltern müssten endlich an einen Tisch kommen, um den besten Weg nach vorn zu finden. „Natürlich freuen wir uns grundsätzlich, dass es Therapien gibt. Da hätte vor fünf Jahren noch niemand mit gerechnet.“

Am Montag zieht eine von Novartis beauftragte Forschungsorganisation nun erstmals den Namen eines der Kinder, die die Behandlung gratis bekommen sollen. Alle paar Wochen folgt eine weitere Ziehung.

Wie viele Bewerbungen eingegangen sind, sagt Novartis nicht. Wenn das Heimatland des Kindes die Behandlung mit dem noch nicht zugelassenen Medikament erlaubt und ein Behandlungszentrum da ist, kann Zolgensma innerhalb von Wochen verabreicht werden.

dpa