Symbolbild: Ein Kind hält die Hand in die Kamera.  (dpa)
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Mit einer Studie über die sogenannte Kinderverschickung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das NRW-Sozialministerium den Grundstein für eine wissenschaftliche
Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Landesgeschichte von Nordrhein-Westfalen gelegt.

„Mentale und personelle Kontinuitäten"

Laut der Studie wurden von 1949 bis 1990 von staatlichen Stellen Fahrten für über 2,1 Millionen Kurkinder aus Nordrhein-Westfalen in Erholungsheime vor allem an Nord- und Ostsee organisiert, wie das Ministerium am Montag in Düsseldorf bei der Vorlage der Studie mitteilte. Erholung fanden sie dort häufig nicht. Im Gegenteil: Viele dieser Kinder waren nach eigenen Berichten dort Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt und leiden zum Teil bis heute unter Depressionen und Angstzuständen.

Die Studie legt den Angaben zufolge offen, dass die Organisation der Erholungs- und Heilkuren für Kinder in der Weimarer Republik aufgebaut und in der NS-Zeit an die Ideologie des nationalsozialistischen Regimes angeglichen wurde. Diese Ausrichtung habe in den Folgejahren nachgewirkt, sodass „mentale und personelle Kontinuitäten“ bestanden hätten, hieß es. Später habe das NRW-Sozialministerium Standards für die Erholungs- und Heilfürsorge etabliert.

Berichte über Demütigungen und sexuelle Gewalt

Ehemalige sogenannte Verschickungskinder schildern den Angaben zufolge in Internetforen oder Medienberichten, wie die eigentlich zur Stabilisierung der Gesundheit gedachte Kur sie traumatisierte. Sie seien Strafen, Demütigungen und Essenszwang bis hin zu Schlägen,
sexueller Gewalt und Medikamentenmissbrauch ausgesetzt gewesen. Diese Zeitzeugenberichte seien grundsätzlich als „in hohem Maße glaubwürdig“ einzustufen, heißt es in der Studie.

Der „dichte Informationsgehalt“ der Schilderungen kontrastiere „mit der Überlieferungslage in Archiven“, heißt es. Aus den Archivdokumenten lasse sich bisher das Ausmaß von Fehlverhalten und Gewaltausübung in den Heimen „nur bedingt belegen“.

Die Anzahl der Verschickungskuren erreichte den Angaben zufolge in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Höhepunkt. Die meisten Berichte ehemaliger Kurkinder beziehen sich auf Erlebnisse in diesem Zeitraum. Einer „Initiative Verschickungskinder“ liegen der Studie zufolge mittlerweile 5000 Berichte von Zeitzeugen vor. Sie beträfen Einrichtungen sämtlicher Trägergruppen von den Kommunen über private Heimträger und Wohlfahrtsverbände bis zu Krankenkassen und betrieblichen Einrichtungen.

Schritt zur „Wahrheitsfindung“

Nach vielen Jahrzehnten des Schweigens sei die jetzt vorgelegte Studie „ein wichtiger Schritt in Richtung Wahrheitsfindung“, sagte Detlef Lichtrauter vom Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“. Das Land werde „in enger Abstimmung“ mit dem Verein einen „Runden Tisch einrichten, um ein Stück weit Licht ins Dunkel zu bringen“, kündigte NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) an.

Gründe für die Verschickung von Kindern für vier bis acht Wochen waren die schwierigen Lebensumstände nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den Ballungsgebieten. Dort litten viele Kinder an Infektionskrankheiten wie etwa Tuberkulose. Laut einem Jugendbericht
der Bundesregierung gab es 1963 insgesamt 839 Kur-, Heil- und Genesungs- und Erholungsheime für minderjährige Jugendliche mit 56.608 Plätzen. Initiativen gehen von einer höheren Zahl aus.

epd