Zeit für Realpolitik: Die Gesellschaft fordert einen neuen Kurs
Neue Umfragen zeigen: Die Gesellschaft erwartet eine klarere, realistischere Außenpolitik. Jetzt ist der Moment für einen Kurswechsel in Berlin.
Seit Jahren gilt ein Satz als nahezu unantastbar in der deutschen Außenpolitik: „Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsräson.“ Doch obwohl diese Formel ihren symbolischen Wert behält, verliert sie gesellschaftlich zunehmend an Boden. Neue Umfragedaten des German Institute for Global and Area Studies zeigen deutlich, dass die deutsche Öffentlichkeit diese Doktrin nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit trägt wie früher.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: 26 Prozent der Befragten lehnen das Staatsräson-Prinzip vollständig ab, weitere 22 Prozent wissen nicht einmal, was der Begriff bedeutet. Das verweist darauf, dass eine normativ aufgeladene Außenpolitik, die sich stark auf historische Verantwortung stützt, heute nicht mehr ausreicht, um die politischen Realitäten zu erklären oder außenpolitische Entscheidungen zu legitimieren. Nur 5 Prozent der Befragten halten die Aussage für „völlig richtig“.
Bemerkenswert ist zudem, dass die deutsche Bevölkerung auf die Ereignisse im Nahen Osten nicht länger einseitig reagiert. 68 Prozent sehen in den Angriffen der Hamas Kriegsverbrechen – zugleich sind 65 Prozent überzeugt, dass auch die israelische Armee Kriegsverbrechen begangen hat. Diese parallele Bewertung zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger den Konflikt weder moralisch noch politisch entlang eines einfachen Schwarz-Weiß-Schemas einordnen. Die Staatsräson verliert damit ihren Charakter als unhinterfragbare Leitlinie und wird zunehmend als historisch erklärbares, aber politisch begrenztes Prinzip gesehen.
Wachsende Skepsis gegenüber Doppelstandards
Ein weiterer zentraler Befund der Untersuchung ist der deutliche Widerstand gegen außenpolitische Doppelstandards. Während die Gesellschaft den Kampf gegen Rechtsextremismus im Inland als unverzichtbar ansieht, empfindet sie die politische Nähe zu rechtsextremen Kräften in der aktuellen israelischen Regierung als widersprüchlich. Das zeigt sich klar in den Daten: 61 Prozent der Befragten halten es für inkonsistent, dass Deutschland im Innern gegen Rechts kämpft, außenpolitisch aber mit rechtsextremen Akteuren kooperiert.
Eine deutliche Mehrheit der Befragten (61 Prozent) ist überzeugt, dass Kritik an Israel klar von Antisemitismus zu unterscheiden ist. Nur 12 Prozent sehen das anders, während 27 Prozent hierzu keine klare Position haben.
Gleichzeitig glauben 32 Prozent, dass die deutsche Nahostpolitik weiterhin von „rassistischen Denkmustern“ geprägt sei – ein Hinweis darauf, dass die Kritik nicht nur einzelne politische Entscheidungen betrifft, sondern als strukturelles Problem wahrgenommen wird. Diese wachsende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit setzt Berlin zunehmend unter Druck: Je größer der Abstand zwischen politischem Selbstbild und außenpolitischer Praxis, desto weniger glaubwürdig erscheint Deutschland auf der internationalen Bühne.
Verstärkt wird dieses Problem durch eine Außenpolitik, die in vielen Regionen – insbesondere im Globalen Süden – als moralistisch, aber inkonsequent wahrgenommen wird. Wo Deutschland hohe moralische Standards einfordert, ohne sie in anderen Kontexten anzuwenden, leidet die eigene Glaubwürdigkeit. Der Ruf nach einer außenpolitischen Strategie, die über symbolische Gesten hinaus konkrete Ergebnisse liefert, wird immer lauter.
Deutschland in einer veränderten Weltordnung
Die internationale Ordnung erlebt derzeit tektonische Verschiebungen. Der geopolitische Wettbewerb zwischen den USA und China zwingt Europa, seine strategische Autonomie neu zu definieren. Gleichzeitig hat Russlands Angriff auf die Ukraine Berlin vor sicherheitspolitische Realitäten gestellt, die jahrelang verdrängt wurden. Hinzu kommt die humanitäre Katastrophe im Nahen Osten, die zeigt, wie begrenzt die Wirkung normativer Rhetorik im Angesicht komplexer Machtpolitiken ist.
Die wachsende Sorge der Bevölkerung, dass Deutschland international an Zustimmung verlieren könnte, spiegelt sich ebenfalls in der Umfrage wider. Mehrere Befragte äußerten die Erwartung, dass Deutschland aufgrund seiner inkonsistenten Haltung künftig „weniger willkommen“ sein könnte. Diese Wahrnehmung ist ein Symptom dafür, dass ein moralischer Führungsanspruch ohne strategische Kohärenz nicht nachhaltig ist.
Parallel dazu steigt die Unterstützung für konkrete politische Instrumente gegenüber der israelischen Regierung: 66 Prozent sprechen sich für einen Stopp neuer Waffenlieferungen aus, 51 Prozent fordern die Aussetzung der militärischen und polizeilichen Kooperation, 47 Prozent befürworten persönliche Sanktionen gegen Mitglieder der israelischen Regierung. Sogar ein Importverbot für Waren aus israelischen Siedlungen findet mit 53 Prozent eine absolute Mehrheit. Diese Werte zeigen unmissverständlich, dass die deutsche Bevölkerung von der Bundesregierung ein stärkeres, konsequenteres außenpolitisches Handeln erwartet.
Ein pragmatischer Kurswechsel
All diese Befunde führen zu einer klaren Schlussfolgerung: Deutschland braucht einen außenpolitischen Neustart – nicht weg von seinen Werten, sondern hin zu einer realistischen Strategie, die Werte und Interessen gleichermaßen berücksichtigt. Pragmatismus bedeutet in diesem Kontext nicht die Aufgabe moralischer Prinzipien, sondern deren Übersetzung in politisch wirksame Maßnahmen.
Während die Sicherheit Israels aus historischer Perspektive weiterhin eine Rolle spielt, zeigt die Umfrage zugleich, dass die Bevölkerung eine ausgewogenere Haltung erwartet. 46 Prozent der Befragten unterstützen eine offizielle Anerkennung des palästinensischen Staates; nur 22 Prozent lehnen dies ab. Dieser Trend signalisiert, dass eine stärker europäisch eingebettete, ausgewogene Nahostpolitik nicht nur möglich, sondern gesellschaftlich mehrheitsfähig wäre.
Europa steht derzeit vor der Aufgabe, seine kollektive Sicherheit und geopolitische Relevanz neu zu ordnen. Eine zögerliche, von historischen Formeln geleitete deutsche Außenpolitik wird diesem Anspruch nicht gerecht. Was Europa braucht, ist ein Berlin, das klare Prioritäten setzt, strategisch denkt und die außenpolitische Realität so akzeptiert, wie sie ist – nicht wie man sie gerne hätte.
Vielleicht ist genau jetzt der Moment, an dem Deutschland seine außenpolitischen Reflexe überdenken und sich von rein symbolischer Politik verabschieden muss. In einer Welt, die zunehmend härter, fragmentierter und konfliktreicher wird, ist Realpolitik kein Zynismus – sondern eine Notwendigkeit.