Frieden in Europa ohne Europa

Europa trägt die Folgen eines Krieges vor seiner Haustür – bleibt aber dennoch von den entscheidenden Verhandlungen ausgeschlossen.

By Ayhan Sarı
Frieden in Europa ohne Europa / Foto: Reuters / Reuters

Europa steht vor einem sicherheitspolitischen Paradox: Der Kontinent ist direkt von einem Krieg in seiner Nachbarschaft betroffen, fehlt jedoch in den entscheidenden Momenten der Diplomatie nahezu vollständig. Jüngste Ereignisse zeigen das deutlich. Ein Sabotageakt in Polen offenbarte erneut die Verwundbarkeit der osteuropäischen Sicherheitsarchitektur, während in den USA ein 28-Punkte-Plan auftauchte, der Kiew faktisch zur Anerkennung russischer Gebietsgewinne drängen sollte. Der Vorschlag entstand im Umfeld von Donald Trump – begleitet von Berichten über Kontakte seiner Unterhändler zu russischen Akteuren.

Unabhängig von der Verifizierbarkeit dieser Vorwürfe macht der Prozess deutlich, wie politisiert und einseitig die Verhandlungsdynamik inzwischen ist. Wolodymyr Selenskyj stand vor einer existenziellen Zwangslage: Entweder ein Abkommen akzeptieren und damit den Verlust eines Fünftels des Staatsgebiets hinnehmen – oder die Unterstützung des wichtigsten Partners riskieren, und das zu Beginn eines harten Winters.

Während Washington den Prozess dominierte und Trump-nahe Akteure eigene politische Ziele verfolgten, blieb Europa weitgehend außen vor. Weder Berlin noch Paris oder Brüssel waren eingebunden; ihre Reaktionen folgten erst, nachdem der Plan öffentliche Empörung ausgelöst hatte. Doch auch die anschließende Revision brachte Europa nicht zurück an den Tisch. Nur zwei Tage später verhandelten erneut amerikanische und ukrainische Vertreter – diesmal in Florida, darunter Marco Rubio und Trump-Vertrauter Steven Witkoff – während Europa erneut nur zusah.

All dies führt zu einer unbequemen Erkenntnis: Europa muss zugleich ein revisionistisches Russland im Osten balancieren und eine amerikanische Politik im Westen, die es zunehmend aus sicherheitspolitischen Kernprozessen drängt.

Eine europäische Außenpolitik ohne die USA – gibt es die überhaupt?

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stützten sich Deutschland und Europa außenpolitisch weiterhin auf ein überholtes Paradigma: Handel, gegenseitige Abhängigkeiten, multilaterale Institutionen und ein liberaler Wertekanon. Im Hintergrund stand jedoch stets eine harte Konstante: die bipolare Nachkriegsordnung und der amerikanische „security umbrella“. Während Europa wirtschaftlich prosperierte, übernahmen die USA die sicherheitspolitische Hauptlast – nicht aus Altruismus, sondern weil jeder sowjetische (und später russische) Positionsgewinn als strategischer Verlust Washingtons galt.

Mit Donald Trump änderte sich dieses Gleichgewicht grundlegend. In Washington setzte sich die Sicht durch, dass der Schutz Europas den Aufwand nicht mehr wert sei und amerikanischen Interessen kaum diene. Russland wurde nicht mehr als globale Konkurrenz wahrgenommen, sondern als regionale Macht, deren Erfolge Europa weit stärker als die USA treffen. Trumps Team favorisierte daher ein Non-Engagement: Konflikte aus der Distanz beobachten, die Hauptlast Europa tragen lassen – und akzeptieren, dass ein Abnutzungskrieg Russland wie Europa schwächt, ohne die US-Position ernsthaft zu gefährden.

Daraus ergibt sich Europas sicherheitspolitisches Dilemma: Die USA bedrohen Europa nicht militärisch – aber schon ihr möglicher Rückzug ist ein Risiko von strategischer Tragweite. Europa muss die Ukraine unterstützen und Russland eindämmen, gleichzeitig aber Washington als militärischen Garanten und diplomatischen Akteur halten.

Doch die diplomatischen Signale sind eindeutig. Seit Trumps Rückkehr ins Amt wurde Selenskyj in Washington kühl empfangen; Friedensgespräche in Saudi-Arabien fanden ohne Europa statt; ein Trump-Putin-Gipfel in Alaska wurde vorbereitet, ohne europäische Beteiligung. Der 28-Punkte-Plan aus dem Trump-Umfeld, der weder mit europäischen Regierungen noch mit Kiew abgestimmt war, passt in dieses Muster.

Die Entwicklung zeigt: Die USA drängen Europa systematisch an den Rand – ausgerechnet in der existenziellsten sicherheitspolitischen Frage des Kontinents.

Wenn der Frieden ohne Europa kommt – ein Worst-Case-Szenario

Stellen wir uns den für Europa ungünstigsten Ausgang vor: einen „Frieden“, der ohne europäischen Einfluss verhandelt wird. Ein Szenario, in dem Donald Trump und Wladimir Putin sich auf einen Deal einigen – und die Ukraine unter amerikanischem Druck gezwungen wird, ihn zu akzeptieren. Für die USA wäre dies ein kalkulierter Erfolg: wirtschaftliche Vorteile durch Rohstoff- und Investitionsabkommen mit Kiew, langfristige LNG-Verträge mit Europa und handelspolitische Zugeständnisse, die Washingtons Position weiter stärken. Für den Kreml wiederum wäre die dauerhafte Kontrolle weiter Teile des Donbass ein politischer und territorialer Gewinn, der im Inneren als Bestätigung der eigenen Strategie gelten könnte. Die Ukraine hingegen stünde vor der bitteren Realität, in einer äußerst schwachen Verhandlungsposition schlechte Bedingungen hinnehmen zu müssen.

Die entscheidende Frage lautet jedoch: Wo bleibt Europa? Seit 2022 haben Deutschland und seine europäischen Partner eine enorme Last getragen – explodierende Energiepreise, brüchige Lieferketten, steigende Rüstungsausgaben, Millionen ukrainischer Geflüchteter sowie eine Sicherheitsarchitektur, die unter größerem Druck steht als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Kalten Krieg. Und was erhält Europa im Gegenzug? Eine geschwächte Wirtschaft, ein verunsichertes sicherheitspolitisches Umfeld, ein Amerika, das sich zunehmend distanziert, und ein Russland, das durch territoriale Gewinne unmittelbar vor Europas Haustür gestärkt dasteht.

Damit bleibt nur ein Weg: Europa muss beginnen, die USA nicht allein durch Appelle, sondern mit eigenen strategischen Optionen zu überzeugen. Es braucht Alternativen, Druckpunkte und die Fähigkeit, Washington klarzumachen, dass ein Rückzug aus dem transatlantischen Rahmen auch für die USA Kosten hätte. Gelingt das nicht, bleibt Europa im schlimmsten Fall mit einer bittern Niederlage zurück – in einem Konflikt, dessen Folgen für den Kontinent weit gravierender sind als für jede andere Macht.