64 Jahre Anwerbeabkommen – Von der Arbeitsmigration zur gemeinsamen Heimat

Am 30. Oktober 1961 begann mit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Türkiye eine neue Ära. Aus Arbeitsmigration wurde eine Geschichte von Zusammenhalt, Vertrauen und gemeinsamer Zukunft.

By Muhammed Ali Uçar
Bahnhof Wolfsburg, 19.12.1970 / Foto: ullstein bild/Getty Images / Getty Images

Am Donnerstag wird Bundeskanzler Friedrich Merz im Rahmen seiner Antrittsreise in Ankara mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zusammentreffen. Doch dieser Besuch hat nicht nur politische, sondern auch symbolische Bedeutung – er fällt genau auf den Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Während heute über Themen wie Wirtschaft, Migration und Sicherheit gesprochen wird, erinnert das Datum zugleich an den Beginn einer gemeinsamen Geschichte, die vor 64 Jahren mit der Unterzeichnung dieses Abkommens begann.

Die Verbindung zwischen Deutschland und Türkiye ist älter, als viele glauben. Ihre Wurzeln reichen bis in die letzten Jahrzehnte des Osmanischen Reiches. Bereits im späten 19. Jahrhundert begannen deutsche Ingenieure und Militärberater, im Osmanischen Reich Brücken, Eisenbahnen und Fabriken zu bauen. Der legendäre Berlin–Bagdad-Express wurde zu einem Symbol dieser frühen Partnerschaft – einer politischen und wirtschaftlichen Allianz, die auf gegenseitigem Vertrauen basierte.

Im Ersten Weltkrieg standen beide Nationen Seite an Seite. Die Allianz zwischen Berlin und Istanbul war mehr als eine militärische Zweckgemeinschaft; sie war Ausdruck einer gemeinsamen Suche nach Modernisierung und Stärke in einer unsicheren Welt.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchien und dem Aufstieg der jungen Republik Türkiye setzten sich diese Beziehungen auf einem neuen Feld fort – in Wissenschaft und Kultur. Als das nationalsozialistische Regime in Deutschland Wissenschaftler und Künstler vertrieb, öffnete Türkiye ihre Türen. Namen wie Ernst Reuter, Fritz Neumark, Gerhard Kessler, Ernst Eduard Hirsch, Paul Hindemith oder Carl Ebert prägten Universitäten, Konservatorien und Ministerien – sie lehrten, planten und reformierten, halfen beim Aufbau von Institutionen und legten die Grundlagen der modernen türkischen Wissenschaft und Kultur.

Diese humanistische Geste blieb unvergessen: 1986 ließ Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor der Universität Istanbul ein Denkmal errichten, mit der Inschrift: „Unter der Führung von Staatspräsident Atatürk öffnete das türkische Volk deutschen Wissenschaftlern seine Arme. Im Namen des deutschen Volkes – mein Dank und meine Anerkennung.“

Diese gegenseitige Nähe, die über Krieg, Ideologie und Generationen hinweg Bestand hatte, bereitete den Boden für eine neue Art der Zusammenarbeit. Als am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Türkiye unterzeichnet wurde, knüpfte man – bewusst oder unbewusst – an diese lange Geschichte gegenseitiger Hilfe, Solidarität und Freundschaft an.

Neue Heimat

Was mit einem Formular begann, wurde für Hunderttausende zu einer Lebenswende. Die ersten türkischen „Gastarbeiter“ kamen nach Deutschland, um Geld zu verdienen – genug, um einen Traktor zu kaufen, ein Haus zu bauen, oder die Familie in Türkiye zu unterstützen. „Ein paar Jahre bleiben, dann zurückkehren“ – das war der Plan. Doch die Jahre wurden Jahrzehnte.

In den Fabriken, auf Baustellen, in Minen und Werkhallen schufteten sie für das deutsche Wirtschaftswunder. Ihre Arbeit war unsichtbar, aber unersetzlich. Ohne die „Gastarbeiter“ aus der Türkiye, Italien, Griechenland, Spanien und Jugoslawien hätte Deutschland seine industrielle Stärke nach dem Krieg kaum wiedererlangt. Türkische Hände legten Schienen, schweißten Stahl, montierten Autos und reinigten Städte.

Doch während der ersten Generation noch sparte, um vielleicht zurückzukehren, wuchs die zweite Generation bereits in einem neuen Zuhause auf. Ihre Kinder sprachen Deutsch, gingen auf deutsche Schulen, hörten Popmusik und studierten an Universitäten. Sie trugen zwei Kulturen in sich – manchmal im Konflikt, oft in Harmonie.

Heute leben in Deutschland rund vier Millionen Menschen türkischer Herkunft – mehr als in manchem europäischen Land. Sie sind Unternehmerinnen, Ärztinnen, Lehrer, Wissenschaftler, Künstlerinnen, Politiker. Im Fußball trugen Mesut Özil, İlkay Gündoğan und Emre Can das Nationaltrikot. In der Wissenschaft retteten Uğur Şahin und Özlem Türeci mit dem BioNTech-Impfstoff gegen Covid-19 Millionen Leben – ein Symbol dafür, dass Migration nicht Verlust, sondern Bereicherung bedeutet.

Diese Geschichten zeigen: Aus dem einstigen Traum vom „Traktor-Geld“ wurde ein bleibendes Kapitel gemeinsamer Geschichte – mit Stolz, Arbeit, Bildung und Zugehörigkeit geschrieben.

Licht und Schatten – Wenn Integration an ihre Grenzen stößt

Doch die deutsch-türkische Geschichte ist keine reine Erfolgsgeschichte. Sie hat auch dunkle Seiten, die das Vertrauen immer wieder auf die Probe gestellt haben.

Am 29. Mai 1993, in Solingen, wurde das Haus der Familie Genç von Neonazis in Brand gesteckt. Fünf Menschen – Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç – verloren ihr Leben. Ihre Namen stehen heute als Mahnung gegen Hass und Gleichgültigkeit. Damals blieb Bundeskanzler Helmut Kohl der Trauerfeier fern – ein Schweigen, das tief verletzte. Erst Jahrzehnte später bezeichnete Angela Merkel die Tat als „eine Schande, die Deutschland niemals vergessen darf“.

Und Solingen blieb kein Einzelfall. Zwischen 2000 und 2007 ermordete der rechtsextreme Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zehn Menschen – neun davon mit türkischen Wurzeln. Über Jahre hinweg sprach die deutsche Presse abfällig von den „Döner-Morden“, während Polizei und Justiz die Familien der Opfer verdächtigten, statt sie zu schützen. Erst spät wurde klar, dass es sich um eine neonazistische Mordserie handelte – und dass der Staat weggeschaut hatte. Trotz eines langjährigen Prozesses, in dem Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, blieben viele Fragen unbeantwortet: Wer unterstützte den NSU? Warum wurden Akten vernichtet? Warum mussten so viele sterben, bevor man das Offensichtliche sah?

Im Februar 2020 erschütterte schließlich der Anschlag von Hanau das Land. Ein rechtsextremer Täter tötete neun Menschen mit Migrationshintergrund – viele von ihnen jung, viele türkischer Abstammung. Bundeskanzlerin Merkel sagte damals: „Rassismus ist ein Gift. Dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft.“

Trotz allem hat die türkische Gemeinschaft in Deutschland nicht resigniert. Sie hat gelernt, Trauer in Erinnerung zu verwandeln und Schmerz in Engagement. In Köln, Berlin, Hanau und München finden jedes Jahr Gedenkveranstaltungen statt, bei denen dieselbe Botschaft erklingt: „Wir vergessen nicht. Wir gehören dazu.“

Gemeinsame Zukunft – Zwischen Wirtschaft, Tourismus und Menschlichkeit

Heute verbindet Deutschland und Türkiye mehr als nur Geschichte und Migration – es ist eine vielschichtige Partnerschaft aus Wirtschaft, Kultur und gegenseitigem Vertrauen.

Mit einem Handelsvolumen von über 50 Milliarden US-Dollar (2023) gehört Deutschland zu den wichtigsten Handelspartnern von Türkiye. Rund 7.000 deutsche Unternehmen sind in Türkiye aktiv, darunter Bosch, Siemens, Mercedes-Benz, MAN, BASF und Bayer. Türkische Unternehmer wiederum haben in Deutschland Zehntausende Arbeitsplätze geschaffen – vom Handwerksbetrieb bis zum internationalen Logistikunternehmen.

Auch der Tourismus ist zu einer lebendigen Brücke geworden: Jedes Jahr reisen über fünf Millionen Deutsche in die Türkiye – nach Antalya, Alanya, Kapadokya oder Istanbul. Keine andere Nation schickt so viele Gäste ans Mittelmeer wie Deutschland. Diese Begegnungen sind vielleicht die ehrlichsten Momente bilateraler Nähe: Familien, die gemeinsam essen, lachen, handeln, Freundschaften schließen – jenseits von Politik und Bürokratie.

64 Jahre nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens ist klar: Aus einem Vertrag über Arbeitskräfte wurde eine gemeinsame Geschichte über Menschen.
Aus „Gastarbeit“ wurde Heimat, aus Distanz Nähe, aus Pflichtgefühl Freundschaft.

Zwischen Köln und Konya, Berlin und Bursa, München und Mersin leben Millionen Menschen, die in beiden Ländern zu Hause sind. Sie sind das wahre Gesicht dieser Beziehung – eines, das über Verträge hinausgeht, das mit Herz, Erinnerung und Hoffnung geschrieben ist.

Der 30. Oktober ist kein gewöhnliches Datum. Es ist der Tag, an dem zwei Länder beschlossen, sich zu begegnen – und der Tag, an dem aus Arbeit Geschichte wurde.