UN: Bühne der Reden, Friedhof der Lösungen

Während Kriege toben und Netanjahu in New York hofiert wird, bleibt die UN ein machtloses Ritual. Erdoğan ruft nach Reformen, Trump nach Abwicklung – und Berlin? Hört zu, statt zu handeln.

By Klaus Jürgens
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Die 80. UN-Vollversammlung hat in New York ihren letzten Verhandlungstag eröffnet und einmal mehr stellt sich die Frage, ob die globale Öffentlichkeit die Beratungen überhaupt wahrnimmt. Abgesehen von den Auftritten von Staats- und Parteichefs bleibt das mediale Echo begrenzt, sodass auch dieses Jahr der Eindruck überwiegt, dass es sich eher um ein Ritual als um einen politischen Wendepunkt handelt. Nach der wenig beachteten 79. Sitzung bietet auch die aktuelle Auflage kaum Anzeichen für einen Durchbruch. Stattdessen dominieren bekannte Themen, die vor allem Stillstand sichtbar machen.

Palästina erhält von einer Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten Anerkennung als Staat, während Israel seine Angriffe fortsetzt, begleitet von Genozid-Vorwürfen – und dennoch darf Premierminister Netanjahu vor der Vollversammlung sprechen, was viele Beobachter als Affront gegenüber demokratischen Grundwerten empfinden. Auch im Ukraine-Krieg zeigen sich keine Fortschritte; der Konflikt bleibt eine blutige Konstante auf der Agenda. Parallel bereitet der Sicherheitsrat neue Sanktionen gegen den Iran vor, doch wirken solche Maßnahmen mehr wie symbolische Gesten denn wie Schritte zur Deeskalation. Drei Konflikte, drei Schauplätze, viel Rhetorik – aber keine Lösungen.

Vor diesem Hintergrund lohnt ein Rückblick auf die Kritik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der bereits vor vier Jahren in seinem programmatischen Buch „A Fairer World Is Possible“ eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen forderte. Mit dem Schlagwort „Die Welt ist größer als Fünf“ zielte er auf das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – China, Frankreich, Russland, die USA und Großbritannien –, das aus seiner Sicht den Kern internationaler Blockaden bildet. Seine Argumentation geht jedoch weiter: Nicht nur das Vetorecht, sondern die gesamte Zusammensetzung und Arbeitsweise des Sicherheitsrates müssten so verändert werden, dass die Organisation tatsächlich alle Nationen, Kulturen und Kontinente repräsentiert.

Genau dieser strukturelle Mangel zeigt sich auch in den aktuellen Sitzungen der Vollversammlung, in denen die bekannten Konfliktlinien dominieren, während Lösungen ausbleiben. Erdoğans Kritik bleibt damit hochaktuell: Die UN präsentieren sich weiterhin als Bühne großer Reden und symbolischer Akte, doch ihr institutionelles Gefüge verhindert, dass sie ihrem Anspruch als Hüterin des Weltfriedens gerecht werden.

Trump will abwickeln, Erdoğan will erneuern

Der Unterschied zwischen der Pauschalkritik von Donald Trump und den Vorschlägen von Präsident Erdoğan könnte kaum deutlicher sein. Während Trump die Vereinten Nationen regelmäßig als ineffizient, teuer und letztlich überflüssig abkanzelte, verweist Erdoğan auf die gleiche Diagnose, zieht aber eine völlig andere Konsequenz: ineffizient ja, aber keineswegs überflüssig. Im Gegenteil – eine reformierte UN wäre notwendiger denn je. Diese proaktive Haltung markiert Realpolitik „Made in Türkiye“ und stellt zugleich die Frage, wie Berlin darauf reagiert.

Gerade Deutschland sollte hier aufmerksam werden. Die Bundesrepublik hat nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Rückkehr in die internationale Gemeinschaft maßgeblich durch den Beitritt zu Institutionen wie der Montanunion (1952), der NATO (1955) und schließlich den Vereinten Nationen (1973) erreicht – und mit der Wiedervereinigung 1990 endgültig ihre volle Souveränität gewonnen. Internationale Mitgliedschaften haben Deutschland geholfen, der Welt sein neues Selbstbild als friedliebende Demokratie zu präsentieren. Isolation war keine Option mehr, stattdessen entschied sich Bonn – und später Berlin – für umfassende Integration. Heute steht die Bundesrepublik jedoch erneut an einer Wegscheide: Will sie nach innen blicken und sich auf ein westliches Kernbündnis beschränken, oder wagt sie den offenen Ansatz globaler Kooperation, auch mit jenen Staaten, die noch im Übergang zur Demokratie sind?

Türkiye nutzt die UN als Bühne – Berlin nur als Zuschauer

In diesem Spannungsfeld tritt Türkiye seit 2003 mit einer ambitionierten 360-Grad-Außenpolitik auf die Bühne. Während die EU Ankara weiterhin die Tür zur Mitgliedschaft verschließt, bietet die UNO eine Arena, in der die türkische Führung Themen wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Frieden und die Überwindung des Nord-Süd-Gefälles platzieren kann. Eine Partnerschaft zwischen Berlin und Ankara im Sinne von Erdoğans Reformvorschlägen könnte auch Deutschland stärken – gerade in einer Phase, in der es international vergleichsweise blass wirkt. Dass mit Annalena Baerbock derzeit eine deutsche Außenministerin die UN-Generalversammlung leitet, unterstreicht die historische Gelegenheit.

Denn es geht um mehr als den Sicherheitsrat allein. Die UNO leidet an Strukturen, die Außenstehenden oft wie ein elitäres Insider-Spiel erscheinen. Wer jemals das Hauptquartier am Hudson River besucht hat, kennt die Szene: Mitarbeiter sprechen in Zahlenreihen über Resolutionen, als handele es sich um einen geheimen Code, der Bürger bewusst ausschließt. Diese Arroganz gegenüber der Weltöffentlichkeit hat das Vertrauen in die Organisation nachhaltig untergraben.

Die Konsequenz ist klar: Die Reformdebatte muss weit über das Vetorecht hinausreichen und die UNO insgesamt neu aufstellen. Ob die nächste Generalversammlung im September 2026 diese Aufgabe ernsthaft aufgreift, bleibt abzuwarten. Sie kann entweder in die Fußstapfen von Reformern wie Erdoğan – und in Teilen auch Trump – treten und den Weg zu einer UN 2.0 eröffnen, oder aber einmal mehr nur als „Nummer am Hudson River“ enden.