Der leise Wandel der Macht – Deutschland und China im neuen Gleichgewicht

Während Deutschland mit innenpolitischen Fragen wie dem „Stadtbild“ ringt, verschiebt sich das globale Machtgefüge still und stetig. China erweitert seinen wirtschaftlichen und technologischen Einfluss – leise, aber zielstrebig.

By Dennis M. Berger
Foto: Nadja Wohlleben/REUTERS (Archiv) / Reuters

Staaten verlieren ihre Macht nicht über Nacht. Manche stürzen abrupt, andere gleiten langsam in die Schwäche – so allmählich, dass weder Bürger noch Institutionen es rechtzeitig bemerken. Doch wenn der Niedergang einmal erkannt wird, ist es oft zu spät, um ihn aufzuhalten. Genau an diesem Punkt stehen heute Deutschland und die Europäische Union: in einer Phase schleichender, aber stetiger Macht­erosion.

Auf der einen Seite steht der rasante Aufstieg Chinas – ein Land, das ohne Zuwanderung und mit enormer Produktionskraft seine wirtschaftliche Stärke stetig ausbaut. Auf der anderen Seite Europa, und besonders Deutschland, das altert, an Produktivität verliert und zugleich in eine politische und gesellschaftliche Selbstblockade gerät. Während Deutschland aufgrund des demografischen Wandels auf Migration angewiesen wäre, steigt gleichzeitig der Zuspruch für rechtspopulistische und teils offen rassistische Bewegungen. Ein paradoxes Verhältnis: Das Land braucht Offenheit, wählt aber zunehmend Abgrenzung.

Diese Spannung spiegelt sich auch in der politischen Debatte wider. CDU-Chef Friedrich Merz bedient mit seinen jüngsten Äußerungen zunehmend rechte Diskurse; die Medien diskutieren über das sogenannte „Stadtbild“, und die Gesellschaft polarisiert sich weiter. Doch während die politische Klasse über Symbole streitet, wird die eigentliche Krise – die wirtschaftliche Schwäche – verdrängt.

Die ökonomische Realität: Vom Wachstum zur Stagnation

Deutschlands Wachstumsproblem ist unübersehbar. Die Wirtschaft steckt seit zwei Jahren in einer Rezession, die Stagnation hält seit über sechs Jahren an, und erstmals seit einem Jahrzehnt liegt die Arbeitslosenzahl wieder über drei Millionen. Laut OECD-Daten liegt die jährliche Veränderung des Bruttoinlandsprodukts nahe bei null, der Zehnjahresdurchschnitt ist historisch niedrig.

In den 1970er Jahren stieg die Produktivität pro Arbeitsstunde noch um fast vier Prozent jährlich; in den letzten zwanzig Jahren waren es nur noch rund ein Prozent, aktuell liegt die Rate bei 0,2 Prozent. Das bedeutet: Die industrielle Basis schrumpft, ohne dass neue Innovationsfelder in gleichem Maße entstehen. Dazu kommt der demografische Wandel: In den nächsten zwölf Jahren werden rund fünf bis sechs Millionen Menschen den Arbeitsmarkt verlassen – deutlich mehr, als nachrücken können.

Die Regierungskoalition versucht gegenzusteuern, indem sie wirtschaftspolitische Programme in den Koalitionsvertrag integriert hat. Doch die Umsetzung bleibt zögerlich, während die Rahmenbedingungen schwieriger werden: geopolitische Spannungen, die Erosion der Globalisierung, hohe Energiekosten und ein immer härterer Wettbewerb mit China.

Eine Umfrage der Handelsblatt-Gruppe zeigt: In energieintensiven Branchen wie Chemie, Stahl, Glas und Zement planen 31 Prozent der befragten Manager, ihre Produktion auf andere Kontinente zu verlagern; 42 Prozent wollen ihre Investitionen innerhalb Europas, aber außerhalb Deutschlands tätigen. Mit anderen Worten: Deutschland exportiert längst nicht mehr nur Produkte, sondern auch Investitionen.

Der China-Faktor: Abhängigkeit als Risiko

Das größte strukturelle Problem Deutschlands ist die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von China. Nach Bloomberg-Daten erreichte das Handelsdefizit gegenüber China in den vergangenen zwölf Monaten 83 Milliarden Euro – den höchsten Wert seit März 2023. Während Deutschland Waren im Wert von 82 Milliarden Euro nach China exportiert, importiert es Güter im Wert von 165 Milliarden.

Diese Schieflage ist nicht nur ein Handels-, sondern ein Technologieproblem: Deutschland kauft heute in China Batterien, Mikrochips und KI-Komponenten – Produkte, die früher als Symbole deutscher Innovationskraft galten.

Hinzu kommt eine zunehmende politische Spannung. Außenminister Wadephul musste seinen geplanten Besuch in Peking kurzfristig verschieben, weil mehrere Gespräche von chinesischer Seite nicht bestätigt wurden – ein diplomatisches Signal, das viel über den Zustand der Beziehungen aussagt.

China unterstützt Russland weiterhin indirekt im Ukraine-Krieg, unter anderem mit Dual-Use-Gütern wie Drohnen und Chips. Als Reaktion setzte die EU in ihrem 19. Sanktionspaket zwölf chinesische Firmen auf die Liste. Zugleich schränkt China den Export Seltener Erden ein – ein zentraler Rohstoff für die deutsche Industrie. Im Fall Nexperia, eines niederländisch-chinesischen Halbleiterunternehmens, stoppte Peking den Export nach Europa, nachdem Den Haag die Kontrolle über Teile der Produktion übernommen hatte. Die Folge: Lieferengpässe, die ganze Produktionsketten in Deutschland gefährden.

Laut einer Umfrage von FTI-Andersch erwarten 51 Prozent der deutschen Industrieunternehmen, dass sich ihre Geschäftslage in den kommenden zwölf Monaten weiter verschlechtern wird. 60 Prozent der Automobilzulieferer haben Kooperationen mit chinesischen Herstellern aufgegeben, 50 Prozent der Maschinenbauer rechnen mit einem Verlust ihrer technologischen Führungsrolle. In energieintensiven Branchen befürchten 94 Prozent eine Verlagerung der Produktion ins Ausland.

Deutschland steht damit inmitten eines historischen Strukturwandels – von der Exportnation zur Produktionsrisikozone.

Politik im Schatten der Realität

Während die Wirtschaft ins Stocken gerät, verliert auch die Politik an Halt. Laut der neuesten Insa-Umfrage für die Bild am Sonntag glauben 49 Prozent der Deutschen, dass die aktuelle Bundesregierung ihre Amtszeit bis 2029 nicht überstehen wird. Nur ein Viertel ist mit der Arbeit zufrieden. SPD und Grüne kommen zusammen nur noch auf 39 Prozent – vor acht Monaten waren es 45. Die AfD bleibt trotz leichter Verluste mit 26 Prozent stärkste Kraft.

Dieses Bild steht für mehr als politische Instabilität: Es ist ein Symptom eines tieferen Vertrauensverlusts. Die Bürger spüren den wirtschaftlichen Druck, während sich die Politik in symbolischen Debatten verliert. Energiepreise, Lebenshaltungskosten und Jobunsicherheit bestimmen den Alltag, nicht die Schlagworte der Parteitage.

Staaten verlieren ihre Stärke selten plötzlich. Sie erodieren langsam – zunächst wirtschaftlich, dann sozial, schließlich politisch. Deutschlands Herausforderung liegt nicht nur im Wachstum, sondern in der Wahrnehmung des eigenen Niedergangs. Wenn dieser Prozess nicht erkannt wird, droht die „schleichende Schwäche“ zur neuen Normalität zu werden.

Ökonomen sind sich einig: Ein Ausweg führt nur über Investitionen, nicht über Konsum. Die Zukunft hängt davon ab, ob Deutschland die Kraft findet, Bürokratie abzubauen, die grüne und digitale Transformation zu beschleunigen und den Glauben an seine Innovationsfähigkeit wiederzuerlangen.

Denn Geschichte lehrt: Gefährlich ist nicht der Niedergang selbst – sondern der Moment, in dem eine Gesellschaft ihn nicht mehr sieht.