Ein Jahr nach dem Ampel-Kollaps: Deutschlands alte Probleme bleiben

Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Ampel-Koalition steht Deutschland noch immer vor den gleichen Herausforderungen: eine stagnierende Wirtschaft und eine politische Landschaft, die zunehmend vom rechten Rand geprägt wird.

By Muhammed Ali Uçar
Ein Jahr nach dem Ampel-Kollaps: Deutschlands alte Probleme bleiben / Foto: AP / AP

Vor genau einem Jahr zerbrach in Berlin die sogenannte Ampel-Koalition. Was damals als Regierungs- und Führungs­krise begann, entpuppte sich rasch als Symptom tiefer liegender struktureller Schwächen. Nach vorgezogenen Wahlen übernahm Friedrich Merz am 6. Mai 2025 das Kanzleramt. Doch ein halbes Jahr später zeigt sich: Die politische Landschaft ist kaum verändert. Deutschland kämpft weiterhin mit den gleichen alten Problemen – wirtschaftlicher Stagnation, einer außenpolitischen Zurückhaltung und wachsender gesellschaftlicher Polarisierung.

Wirtschaft: Von der Lokomotive zur Schwerfälligkeit

Lange galt Deutschland als wirtschaftliches Kraftzentrum Europas. Heute jedoch bewegt sich die „Lokomotive“ nur noch im Schritttempo – wenn überhaupt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) schrumpfte das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch kalenderbereinigt blieb die Wirtschaftsleistung rückläufig. Damit setzte sich die Schwächephase des Vorjahres fort.

„Konjunkturelle und strukturelle Belastungen“ – von der sinkenden Nachfrage auf den Exportmärkten über hohe Energiekosten bis hin zu einem weiterhin hohen Zinsniveau – hemmten die deutsche Wirtschaft, erklärte Destatis-Präsidentin Ruth Brand in Berlin. Im Durchschnitt der Jahre 2013 bis 2023 lag das Wachstum noch bei 1,1 Prozent – ein Wert, von dem Deutschland inzwischen weit entfernt ist. Für 2025 rechnen die großen Wirtschaftsinstitute kaum mit einer spürbaren Erholung. Die einstige „Lokomotive Europas“ steckt damit weiter im Stillstand fest.

Energiepreise, Fachkräfte­mangel und überbordende Bürokratie belasten Unternehmen; Investitionen wandern zunehmend ins Ausland. Laut einer Umfrage der Handelsblatt-Gruppe erwägen mehr als 30 Prozent der Manager in energieintensiven Branchen, ihre Produktion zu verlagern. Deutschland exportiert längst nicht mehr nur Waren, sondern auch Investitionen.

Besonders deutlich zeigt sich die strukturelle Schwäche im Verhältnis zu China. Peking ist längst nicht mehr bloß Handelspartner, sondern wirtschaftlicher Taktgeber. Das Handelsdefizit mit China erreichte im Herbst 2025 rund 87 Milliarden Euro – ein Rekordwert. Deutschland importiert heute Batterien, Mikrochips und KI-Bauteile aus China – Produkte, die einst Sinnbild eigener Innovationskraft waren.

Während China seine industrielle Basis ausbaut und technologische Unabhängigkeit gewinnt, verliert Deutschland seine. Die Abhängigkeit von chinesischen Vorprodukten schwächt die Verhandlungs­position Berlins und zwingt die Außenpolitik in ein Spannungsfeld zwischen moralischem Anspruch und ökonomischer Realität. Ohne eine echte Reformagenda – Entbürokratisierung, digitale Infrastruktur, Förderung von Innovation – bleibt der Aufschwung bloß eine politische Floskel.

Außenpolitik: Zwischen Anspruch und Realität

Auch außenpolitisch steht Deutschland vor komplexen Herausforderungen. Die Merz-Regierung versucht, moralische Prinzipien mit pragmatischem Handeln in Einklang zu bringen. Im Russland-Ukraine-Konflikt setzt Berlin weiterhin auf Sanktionen und diplomatische Abstimmung mit den europäischen Partnern, während Spielräume für neue Initiativen begrenzt bleiben. Die Hoffnung, allein durch wirtschaftlichen Druck zu einer Lösung zu gelangen, hat sich bislang nicht erfüllt.

Zugleich fällt es Deutschland zunehmend schwer, seine gewohnte Führungsrolle in Europa unter den heutigen Rahmenbedingungen voll auszufüllen. Mit Frankreich bestehen unterschiedliche strategische Ansätze, und auch einige osteuropäische Partner wünschen sich mitunter mehr Klarheit und Dynamik in der deutschen Politik. Berlin, einst das politische Zentrum der EU, agiert heute eher als ausgleichender Vermittler denn als dominanter Taktgeber.

Ähnliche Spannungen zeigen sich im Verhältnis zu China. Einige geplante Regierungsbesuche wurden verschoben oder angepasst – ein Hinweis darauf, dass die bilateralen Beziehungen in einer Phase der Neujustierung stehen. Deutschland sucht nach einer ausgewogenen Position zwischen transatlantischer Partnerschaft und wirtschaftlicher Verflechtung mit Asien, während eine langfristige Strategie noch im Entstehen ist.

Europa blickt daher auf ein Berlin, das Stabilität ausstrahlt, zugleich aber auf der Suche nach neuer Orientierung ist. Die zentrale Frage lautet nicht mehr, ob Deutschland führen will, sondern wie es seine Rolle in einem veränderten internationalen Umfeld neu definieren kann.

Der Aufstieg der extremen Rechten – ein chronisches Problem

Kaum ein anderes Thema prägt die politische Debatte so sehr wie der Aufstieg der extremen Rechten. Die AfD hat sich von einer Protestpartei zu einer dauerhaften politischen Kraft entwickelt. In mehreren Umfragen liegt sie mit rund 26 Prozent vor den Regierungsparteien.

Diese Entwicklung ist mehr als ein vorübergehendes Stimmungs­phänomen – sie ist ein strukturelles Alarmzeichen. Deutschland erlebt eine Erosion der politischen Mitte, wie sie seit der Nachkriegszeit beispiellos ist. Wirtschaftliche Unsicherheit, Migrations­ängste und kulturelle Identitäts­debatten speisen eine Mischung aus Wut und Resignation.

Doch der gefährlichste Aspekt liegt woanders: Teile der etablierten Parteien übernehmen inzwischen die Rhetorik der Rechten, in der Hoffnung, deren Wähler zurückzugewinnen. Kanzler Merz selbst bedient in Interviews Begriffe, die an den Diskurs der AfD erinnern. Damit wiederholt sich ein historisches Muster: Wer die Populisten imitiert, stärkt sie. Oder, um es salopp zu sagen: Imitation adelt das Original.

Das Ergebnis ist eine Normalisierung extremistischer Positionen. Wenn die politische Mitte ihre eigene Sprache verliert, verliert sie auch ihre Bindungskraft. Die Demokratie leidet nicht nur unter radikalen Gegnern, sondern auch unter der schleichenden Anpassung ihrer Verteidiger.

Gesellschaft und Politik: Vertrauen im Sinkflug

Die jüngste Insa-Umfrage für die Bild am Sonntag zeigt: 49 Prozent der Deutschen glauben nicht, dass die aktuelle Regierung bis 2029 im Amt bleiben wird. Nur ein Viertel ist mit ihrer Arbeit zufrieden. Politik wird zunehmend als abgehoben empfunden, die gesellschaftliche Kluft wächst.

Die politischen Eliten verlieren sich in Symboldebatten – über Stadtbilder, Geschlechterrollen oder Sprachregelungen – während Fragen zu Energiepreisen, Wohnungsnot und sozialer Ungleichheit unbeantwortet bleiben. Das schafft Raum für populistische Vereinfachungen.

Deutschland befindet sich damit in einer Phase schleichender, aber stetiger Legitimitäts­erosion. Es ist nicht der offene Zusammenbruch, sondern die langsame Entleerung demokratischer Substanz, die Sorgen bereitet.

Fazit: Zwischen Stabilität und Erneuerung

Ein Jahr nach dem Ampel-Kollaps steht Deutschland erneut an einem Scheideweg. Viele Probleme sind erkannt, doch ihre Lösung erfordert Zeit, Mut und politische Entschlossenheit. Die neue Regierung bemüht sich um Stabilität, wirkt dabei jedoch mitunter vorsichtig – in einem Umfeld, das zunehmend nach Orientierung und Gestaltungswillen verlangt.

Wirtschaftlich bleibt Deutschland vor strukturellen Herausforderungen: Investitionen, Digitalisierung und Innovationskraft müssen gestärkt werden, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Außenpolitisch steht das Land vor der Aufgabe, seine Rolle zwischen europäischer Verantwortung und globaler Anpassungsfähigkeit neu zu definieren. Auch gesellschaftlich ist der Zusammenhalt gefordert – nicht durch Polarisierung, sondern durch Dialog und Vertrauen.

Europa blickt mit Aufmerksamkeit auf Berlin. Denn die Stärke Deutschlands ist eng mit der Stabilität Europas verbunden. Ein verlässliches, zukunftsorientiertes Deutschland bleibt entscheidend für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.

Die Geschichte zeigt: Gesellschaften wachsen nicht aus Krisen heraus, indem sie sie verdrängen, sondern indem sie sie aktiv gestalten. Deutschlands größte Aufgabe liegt daher nicht allein in der Bewältigung einzelner Probleme, sondern in der Fähigkeit, aus ihnen eine neue Dynamik zu entwickeln.

Ein Jahr nach dem Regierungsbruch lässt sich festhalten: Die zentralen Herausforderungen sind geblieben – doch die Chance, sie zu bewältigen, besteht weiterhin. Es liegt nun an Berlin, aus Stabilität wieder Bewegung zu machen.