Spaltung oder Zusammenhalt – wohin steuert Österreich?

Das kommende Kopftuchverbot beantwortet keine der dringlichen Fragen, denen Österreich heute bevorsteht - im Gegenteil: Es vertieft die Bruchlinien in einem Land, das gerade jetzt mehr Zusammenhalt und politische Verantwortung braucht.

By Anna Leitner
ARCHIV - 26.09.2016, Hamburg: Eine Frau mit Kopftuch steht auf dem Bürgersteig. / Foto: DPA

Mit einem neuen Gesetzespaket fixiert die österreichische Regierung nun ein Kopftuchverbot an Schulen, welches ausschließlich für Mädchen unter 14 Jahren gilt. Verboten wird das Tragen eines Kopftuchs nach islamischer Tradition auf dem gesamten Schulgelände. Die Regierung geht davon aus, dass rund 12.000 Mädchen von diesem Verbot betroffen sein werden.

Mit dem Islamgesetz von 1912 erkannte Österreich den Islam als offizielle Religionsgemeinschaft an. Diese Entscheidung galt nicht nur als Ausdruck der historischen Verflechtungen mit dem Balkan und dem osmanischen Raum, sondern auch als Ergebnis eines politischen Verständnisses, das religiöse Gemeinschaften regulieren, aber zugleich institutionell einbinden wollte.

Seit den 1960er-Jahren, mit der Arbeitsmigration aus Türkiye und Südosteuropa, wurde die muslimische Bevölkerung zu einem sichtbaren, stabilen und unverzichtbaren Bestandteil der österreichischen Gesellschaft. Kopftuchtragende Frauen und Mädchen waren im öffentlichen Raum schon lange präsent, ohne dass dies als politisches Problem konstruiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass gerade 2025 ein Thema wie das Kopftuch, das jahrzehntelang kein tiefes Konfliktfeld darstellte, plötzlich zu einer der zentralen politischen Debatten erhoben wird. Dies hat weniger mit gesellschaftlichen Realitäten zu tun als mit politischem Kalkül.

Die tektonischen Verschiebungen finden nicht innerhalb der Gesellschaft statt, sondern innerhalb des politischen Systems. Österreich durchläuft derzeit eine Phase, in der ökonomische Belastungen, geopolitische Unsicherheiten, eine rasch alternde Bevölkerung und eine zunehmend fragile politische Mitte zusammenwirken. In solchen Zeiten wächst die Versuchung, auf symbolische Politik auszuweichen: Anstatt der Versuchung, reale Probleme zu lösen, werden Konflikte in kulturelle Stellvertreterdebatten verlagert. Die aktuelle Diskussion über das Kopftuchverbot ist daher weniger Reaktion auf ein tatsächliches Problem, sondern vielmehr der Versuch, politische Wirkung zu erzeugen – sei es um den Preis gesellschaftlicher Spaltung.

Österreichs Regierung unter rechtem Druck

Um diese politische Dynamik zu verstehen, reicht ein Blick auf die aktuellen Umfragen. Die „Sonntagsfrage“-Hochrechnung der Lazarsfeld Gesellschaft zeigt, dass die österreichische Politik vor einer historischen Machtverschiebung steht. Die FPÖ liegt mit 37 Prozent klar in Führung. Die ÖVP fällt auf 20 Prozent zurück, die SPÖ auf 18 Prozent. Die Grünen erreichen 11 Prozent, die NEOS 8 Prozent. Dieses Bild verdeutlicht, wie stark die beiden traditionellen Regierungsparteien (ÖVP und SPÖ) an historischer Legitimität verloren haben. Dass die FPÖ über eine Unterstützung verfügt, die sie nahezu allein regierungsfähig machen könnte, erhöht den Druck auf die Koalition erheblich. Da die Regierung auf diesen Druck nicht mit politischer Substanz reagieren kann, versucht sie, sich über polarisierende kulturelle Themen neu zu positionieren. Genau dies erklärt die zeitliche Setzung des Kopftuchverbots.

Auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass der politische Druck deutlicher spürbar wird. Österreich sieht sich in den Jahren 2024–2025 aufgrund der hohen Inflation mit einer zunehmend belastenden und langfristig wirksamen Phase steigender Lebenshaltungskosten konfrontiert. Die Daten von Statistik Austria für Oktober 2025 machen das sehr deutlich: Die Preise für Wohnen, Wasser und Energie stiegen um 6,6 Prozent; Restaurants und Hotels um sechs Prozent; Lebensmittel um vier Prozent. Die allgemeine Inflationsrate kletterte wieder auf vier Prozent.

Die sozialen Folgen dieser Preissteigerungen beschränken sich jedoch nicht nur auf finanzielle Engpässe. Laut den von der Kronen Zeitung veröffentlichten Caritas-Daten hat ein bedeutender Teil der Bevölkerung Schwierigkeiten, grundlegende Bedürfnisse zu decken: 23,1 Prozent können unerwartete Ausgaben über 1500 Euro nicht finanzieren; 22,3 Prozent können sich keinen Jahresurlaub leisten. 19,9 Prozent können nicht mehr regelmäßig an Freizeitaktivitäten teilnehmen. Besonders auffällig ist, dass 9,3 Prozent der Befragten aufgrund finanzieller Belastungen seltener als einmal im Monat Freunde treffen. Die Zahl jener, die aus Kostengründen soziale Kontakte einschränken mussten, hat sich innerhalb von nur zwei Jahren verdoppelt. Das zeigt eine Gesellschaft, die zunehmend in sich zurückfällt, vereinsamt und unter wirtschaftlichem Druck leidet.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es kein Zufall, dass die Regierung die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Kopftuchdebatte lenkt. Je mehr über die reale Krise der Lebenshaltungskosten, über steigende Energiepreise, über einen aus dem Ruder laufenden Wohnungsmarkt und über die alltägliche Last der Inflation gesprochen wird, desto stärker muss sich die Politik ihrer Verantwortung stellen. Kulturelle Fragen hingegen bieten den einfachsten Weg, diese Diskussion zu überlagern. Symbolpolitiken, die Migrantinnen und Migranten – insbesondere Musliminnen und Muslime – ins Zentrum rücken, blockieren die wirtschaftliche Debatte und sollen beim Publikum das Bild einer „entschlossenen und starken Führung“ suggerieren.

Kopftuchverbot: Ein deutliches Risiko für Integration und Zusammenhalt

Es ist sehr wichtig, die symbolischen Auswirkungen eines Kopftuchverbots auf Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verstehen. Österreich ist eine schnell alternde Gesellschaft; nach 2030 wird jede vierte Person über 65 Jahre alt sein. Diese demografische Realität zeigt, dass das Verhältnis zu Migrantinnen und Migranten nicht nur eine ethische Frage ist, sondern auch eine der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit. Eine Politik, die Menschen mit Migrationshintergrund – oder spezifisch Musliminnen und Muslime – aus der gesellschaftlichen Mitte drängt, läuft langfristig den ökonomischen Interessen Österreichs zuwider.

Maßnahmen wie ein Kopftuchverbot treffen daher nicht nur jene Frauen und Mädchen, die ein Kopftuch tragen, sondern signalisieren der gesamten migrantischen Bevölkerung eine Form der Ausgrenzung. Denn es geht nicht um das Stück Stoff selbst, sondern um die Botschaft, die vermittelt wird: „Ihr gehört nicht in das Zentrum dieser Gesellschaft.“

Ein solcher Ansatz schwächt die Integration, erhöht das Misstrauen und fördert gesellschaftliche Spaltungen, die in Wahrheit niemandem nützen. Dabei hat Österreich eine lange staatliche Tradition, Krisen pragmatisch, rational und verbindend zu bewältigen. Genau das wäre auch jetzt notwendig: nicht durch künstlich aufgeheizte kulturelle Debatten, sondern durch Maßnahmen, die wirtschaftliche Stabilität schaffen, sozialen Zusammenhalt stärken und Österreichs diplomatische Handlungsfähigkeit in einem sich wandelnden Europa festigen.

Eine Perspektive für Österreichs Zukunft

Österreich war historisch immer ein Land, das Krisen gemeinsam meistern konnte. Die aktuellen wirtschaftlichen Belastungen, geopolitischen Unsicherheiten und die zunehmende politische Polarisierung machen es notwendig, an diese Tradition anzuknüpfen.

Was das Land jetzt braucht, sind nicht Symbolpolitiken, die spalten, sondern Schritte, die ökonomische Stärke fördern, die Lebenshaltungskosten senken, die soziale Stabilität wiederherstellen und Österreichs Stimme auf internationaler Bühne stärken. Ein Kopftuchverbot kann all das nicht leisten; es bietet lediglich eine kurzfristige Antwort auf politischen Druck – und riskiert dabei, die Zukunft des Landes zu schwächen.