Pragmatismus in Berlin: Türkiye rückt wieder in den Fokus
Steigende Sicherheitsrisiken und neue geopolitische Realitäten zwingen Berlin dazu, seine Türkiye-Politik neu zu justieren. Warum rückt Türkiye ausgerechnet jetzt wieder in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik?
Der Besuch des türkischen Außenministers Hakan Fidan in Berlin markiert mehr als einen gewöhnlichen diplomatischen Austausch. Er symbolisiert eine tiefgreifende Neuausrichtung in den deutsch-türkischen Beziehungen, eine Verschiebung, die sich aus dem veränderten globalen Sicherheitsumfeld und den geopolitischen Realitäten ergibt. Während der gemeinsamen Pressekonferenz betonte Bundesaußenminister Johann Wadephul unmissverständlich: „Es ist jetzt an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“
Wadephul verwies darauf, dass Türkiye in zahlreichen Feldern „zu einem zentralen Partner“ geworden sei, von der Ukraine über den Nahen Osten bis hin zu den Herausforderungen im Mittelmeerraum. Fidan wiederum unterstrich die langfristige strategische Ausrichtung seines Landes: „Die Europäische Union bleibt das strategische Ziel von Türkiye, wir werden alle Voraussetzungen entsprechend zu erfüllen suchen… Man muss die Spielregeln einhalten.“ Zugleich kritisierte er die derzeitige Stagnation im Beitrittsprozess und forderte die Wiedereröffnung der Verhandlungskapitel.
Diese Aussagen zeigen klar: Berlin und Ankara bewegen sich wieder aufeinander zu – nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil sich europäische Sicherheits- und Stabilitätsinteressen fundamental neu definiert haben.
Warum jetzt?
Deutschland gehörte über Jahre hinweg zu den entschiedensten Gegnern eines türkischen EU-Beitritts. Die politische Debatte in Berlin war geprägt von normativen Kriterien, Wertefragen und institutionellen Bedenken. Doch diese Position wird zunehmend von der Realität überholt.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Europas Sicherheitsarchitektur erschüttert. Deutschland reagierte mit der sogenannten „Zeitenwende“, einem Paradigmenwechsel, der die Erkenntnis brachte, dass Europa ohne verlässliche regionale Partner verwundbar ist. Die bisherigen Routinen strategischer Planung haben ausgedient.
Hier kommt Türkiye ins Spiel. Ankara ist nicht nur ein zentraler sicherheitspolitischer Akteur im Schwarzen Meer, sondern auch ein entscheidender Vermittler zwischen Kyjiw und Moskau. Hinzu kommen die Konflikte in Syrien, Libyen, Gaza und im Südkaukasus, in denen Türkiye eine aktive Rolle spielt. Berlin erkennt zunehmend, dass die eigene Sicherheit ohne eine strategische Kooperation mit Ankara lückenhaft bleibt. Genau das erklärt, warum Deutschland heute eine deutlich konstruktivere Haltung gegenüber einem neuen Anlauf im EU-Prozess einnimmt.
Türkische Verteidigungsindustrie im Höhenflug
Ein zweiter Grund für den Kurswechsel liegt in der rasanten Entwicklung der türkischen Verteidigungsindustrie. Besonders im Drohnensektor hat Türkiye internationale Aufmerksamkeit erregt. Systeme wie der Bayraktar TB2 wurden in der Ukraine und zuvor in Syrien, Libyen sowie Bergkarabach zu strategischen Game Changern.
Deutschland, das seit Jahren mit verteidigungspolitischen Engpässen ringt, kann die Bedeutung dieser Entwicklungen nicht ignorieren. Die militärischen Fähigkeiten von Türkiye wirken sich unmittelbar auf Europas Sicherheitslage aus. Ankara ist nicht länger nur ein regionaler Akteur, sondern ein globaler Technologieproduzent, dessen Rolle Berlin aus sicherheitspolitischer Sicht neu bewerten muss.
Türkiye als unverzichtbarer NATO-Partner
In der NATO ist Türkiye ohnehin einer der entscheidenden Akteure. Ob Schwarzes Meer, Nahost, Terrorismusbekämpfung, Energieinfrastruktur oder Verteidigungskooperation – Ankara bildet einen sicherheitspolitischen Knotenpunkt, den kein westliches Land umgehen kann.
Für Deutschland bedeutet dies: Die Zusammenarbeit mit Türkiye lässt sich nicht auf NATO-Routinen beschränken. Berlin strebt zunehmend danach, sicherheitspolitische Synergien auch auf die europäische Ebene zu übertragen. Wadephuls Aussage, es liege im deutschen Interesse, „die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Türkiye zu stärken“, ist Ausdruck genau dieser Überlegung.
Türkiye als Schlüsselpartner für Europas Stabilität
Die Bedeutung von Türkiye für Europa geht weit über Sicherheitspolitik hinaus. In der Migrationssteuerung, der Energieversorgung, der Logistik und im Handel ist Ankara ein unverzichtbarer Partner. Türkiye ist nicht nur Teil der Zollunion, sondern auch einer der wichtigsten Produktionsstandorte für europäische Unternehmen.
Wadephuls Hinweis auf die in Deutschland lebenden über drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln zeigt, welch tiefes soziales und kulturelles Geflecht die Beziehungen trägt. Ein strategischer Dialog mit Ankara ist daher nicht nur außenpolitisch notwendig, sondern wirkt unmittelbar auf die gesellschaftliche Integration in Deutschland. die Qualität der bilateralen Beziehungen beeinflusst auch das alltägliche Zusammenleben, von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen bis hin zu Identitätsfragen der jüngeren Generation. Eine konstruktive politische Atmosphäre erleichtert den sozialen Zusammenhalt, reduziert Polarisierungspotenziale und schafft Vertrauen in staatliche Institutionen. In diesem Sinne hat die Annäherung zwischen Deutschland und Türkiye nicht nur geopolitische, sondern auch klare gesellschaftliche Auswirkungen.
Die Wiedereröffnung der EU-Kapitel als Lackmustest für die Zukunft
Fidans Worte „Die Europäische Union bleibt das strategische Ziel von Türkiye“ machen deutlich, dass Ankara seinen europäischen Kurs nicht aufgegeben hat. Doch ob daraus eine echte Dynamik entsteht, hängt nun maßgeblich davon ab, ob die Europäischen Union die festgefahrenen Beitrittskapitel tatsächlich wieder öffnet.
Genau hier liegt der entscheidende Test: Die Wiederaufnahme der Verhandlungen wäre kein symbolischer Schritt, sondern ein strategischer Wendepunkt. Sie würde Türkiye, Deutschland und die EU in wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht wieder enger miteinander verbinden. Eine Modernisierung der Zollunion, vertiefte Investitionsströme, intensivere Bildungs- und Forschungspartnerschaften und stärkere gesellschaftliche Verflechtungen wären realistische Ergebnisse.
Vor allem aber gilt: In Zeiten multipler Krisen ist eine Annäherung zwischen der EU und Türkiye nicht nur wünschenswert, sondern notwendig für die Stabilität der gesamten Region.
Eine Welt, in der Großmächte zunehmend konfrontativ agieren, lässt weder für Europa noch für Türkiye Raum für strategische Isolation. Wenn Berlin und Brüssel den Mut finden, gemeinsam mit Ankara ein neues Kapitel aufzuschlagen, könnte daraus eine tragfähige Partnerschaft entstehen, die nicht nur den bilateralen Beziehungen, sondern auch der regionalen Sicherheit Europas neue Stabilität verleiht.