Lehren aus dem Erfolg der AfD bei den Kommunalwahlen in NRW

Die AfD räumt in NRW ab – und plötzlich bröckelt der Mythos von der immunen Demokratie. Was lange als „Ost-Problem“ abgetan wurde, frisst sich nun mitten ins Herz der Republik.

By Prof. Uli Brückner
Logos stehen bei der Wahlparty der Alternative für Deutschland in der Bundesgeschäftsstelle der AfD. / Foto: DPA / DPA

Die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa und darüber hinaus markieren eine Zäsur in der Geschichte der repräsentativen Demokratien. Sie zeigen, dass die Annahme einer Immunität westlicher Gesellschaften gegen anti-elitäre und anti-liberale Bewegungen nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und faschistischen Phasen in anderen Teilen Europas naiv und übertrieben optimistisch war. Deutschland erschien lange als Ausnahme und ist es nun nicht mehr – wie die jüngsten Kommunalwahlerfolge der AfD in Nordrhein-Westfalen eindringlich unter Beweis stellen. Doch um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen und Gegenstrategien zu entwickeln, reicht der bloße Verweis auf schwierige Zeiten nicht aus. Es lohnt, tiefer zu fragen: Was macht Populisten stark? Und was verrät der NRW-Fall über die Verschiebung einer ganzen politischen Kultur?

Erfolgsprinzip Populismus: Zwischen Ressentiment und Identitätspolitik

Populismus gedeiht dort, wo für konkrete und behauptete Probleme passende Erzählungen angeboten werden, mit denen Unsicherheit geschürt und Sündenböcke wie „die da oben“ oder „die anderen“ verantwortlich gemacht werden. Wie Barbara Sichtermann und Simon Brückner jüngst in einem hörenswerten Beitrag im Deutschlandfunk betonen, handelt es sich dabei um ein latent anti-intellektuelles und oft bewusst unscharfes Phänomen: Populistische Bewegungen sind selten ideologisch geschlossen oder gesellschaftstheoretisch innovativ. Ihr Markenzeichen ist nicht die Ausarbeitung tragfähiger Gegenentwürfe, sondern die Destruktion, das gekonnte Spiel mit Stimmungen, Symbolen und Ressentiments. Sie behaupten, die „wahre Stimme des Volkes“ zu sein, und setzten auf Polarisierung, Vereinfachung und die Ablehnung von Komplexität. Gerade in Zeiten multipler gesellschaftlicher und internationaler Herausforderungen – Kriege in Europa und im Nahen Osten, geopolitische Verschiebungen, Handelsstreit, Migrations- und Integrationsprobleme, die Geschwindigkeit technologischer Veränderungen und Umbrüche in der Arbeitswelt, Digitalisierung, Identitätskonflikte – gewinnen diese Narrative an Kraft.

Sichtermann und Brückner analysieren präzise, dass Populisten von einer „diffusen, systemkritischen Strömung“ profitieren, die weniger an Lösungen interessiert sind als daran, einen Aufstand zu entfachen gegen Modernisierungsdruck, Globalisierung und nicht zuletzt auch gegen akademische Deutungshoheit von Experten. Oft geht es nicht um einen Mangel an Wissen, sondern ob sich eine Sichtweise mit der eigenen gefühlten Wahrheit deckt. Entscheidender als Programmatik ist die Fähigkeit populistischer Akteure, das Gefühl eines permanenten Verlusts und der Entrechtung durch die Dominanz „linksliberaler Gesellschaftsentwürfe“ in politische Aktivierung zu übersetzen. Es ist dieses Spiel mit der Idee, gegen „die da oben“ kämpfen zu müssen, das große Teile der Wählerschaft mobilisiert – zumal, wenn die traditionellen Ordnungsparteien der Mitte keine Antworten auf tatsächliche oder angenommene Kontrollverluste liefern.

Deutsche Besonderheiten 2025: Von der Protestwahl zur Systemverschiebung

Im Deutschland des Jahres 2025 hat sich der Populismus im Parteiensystem etabliert. Die AfD ist nicht mehr nur ein Ausdruck vorübergehender Verärgerung und Protest. Sie profitiert als politische Sammelbewegung für Frustrierte, Verstimmte, Menschen, die sich als Opfer sehen und identitätspolitisch mobilisierte Gruppen, ohne selbst ein konsistentes Zukunftsprojekt anbieten zu müssen. Die Partei behauptet, verstärkt und nutzt eine „Kluft“ zwischen Bürger und institutioneller Politik, die durch Schwächen des Systems, handwerkliche Fehler, Kommunikationsdefizite, Skandale, „politische Korrektheit“ und eine als entmenschlicht und überbordend empfundene Bürokratie zunimmt. Im Osten kommt ihr entgegen, dass die Identifikation mit dem politischen System weniger stark ausgeprägt ist als in der alten Bundesrepublik.

Den Untersuchungen von Sichtermann/Brückner folgend, lässt sich der Aufstieg der AfD in Deutschland „im Besonderen“ also nicht nur mit objektiven Verteilungskonflikten oder tatsächlichen Krisen erklären, sondern durch subjektive Vorstellungen von Wirklichkeit, Entfremdungserfahrungen, einen Wandel politischer Kommunikation und eine sich verändernde politische Kultur, die Ressentiments befeuert. Die populistische Erzählung von der eigenen Ohnmacht angesichts der „Arroganz der Macht“ zeigt Erfolge. Menschen fühlen sich abgehängt, verlieren Vertrauen in die Zukunft, romantisieren die Vergangenheit und machen als Opfer andere für ihre Lage verantwortlich.

NRW als Mikrokosmos: Lokale Dynamik, gesamtgesellschaftliche Signale

Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das bevölkerungsreichste Bundesland, sondern auch traditionell ein Spiegelbild deutscher Vielfalt und Transformation. Hier treffen städtische Milieus auf ländliche Räume, Modernisierungserfolge auf postindustrielle Enttäuschung, Integrationserfolge auf Parallelgesellschaften, weltläufige Kosmopoliten auf lokale Traditionsnetzwerke. Dass die AfD in diesem Kontext bei Kommunalwahlen 16% erreichen kann, ist noch kein Erdrutsch, verweist aber auf vier zentrale Dynamiken:

  1. Pluralisierte Abstiegsängste: Der industrielle Wandel, die Krise alter Lebensentwürfe und das Tempo kulturellen Wandels führen in vielen Kommunen zu Ängsten vor dem „sozialen Abstieg“, die sich nicht nur materiell, sondern auch identitätspolitisch aufladen lassen. Die AfD versteht es, diese Gefühle (oft mit Blick auf Migration oder „Überfremdung“) programmatisch zu kanalisieren und oftmals überhaupt erst zu entfachen – weniger als Partei der Lösungen, mehr als Projektionsfläche und Verstärker von Ablehnung.
  2. Kümmerer-Rhetorik und Protest gegen die Institutionen: In Regionen, in denen Parteien wie SPD und CDU jahrzehntelang politische und gesellschaftliche Ordnung garantiert haben, inszeniert sich die AfD als neue Adresse für Bürgerinteressen. Die Partei ist präsent und setzt auf die Thematisierung lokal greifbarer Missstände – von maroder Infrastruktur bis zu lediglich behaupteter, aber subjektiv empfundener Unsicherheit – ohne konkrete Verantwortung übernehmen zu müssen.
  3. Digitale Mobilisierung und diskursive Radikalisierung: Die AfD setzt in NRW gezielt soziale und digitale Medien ein, um lokale Aufregerthemen in nationale Protestbewegungen einzubinden. Hier verbinden sich globale Empörungswellen mit spezifischen lokalen Erfahrungen. Wie Sichtermann/Brückner beschreiben, dominieren keine komplexen Theorien, sondern ein „diffuser Aufstand gegen Komplexität“ und den Mainstream.
  4. Schwäche etablierter Parteien und Eskalation der Rhetorik: Die Reaktion der „alten Parteien“ ist oft defensiv; sie verbleiben in einer Abwehrhaltung, die von vielen als Arroganz oder Realitätsferne abgelehnt wird. So bestätigen sie das populistische Narrativ von abgehobenen Eliten, denen es an Verständnis und Lösungen mangelt.

Folgen: Neue Spaltungslinien und politische Verhärtung

Die unmittelbaren Folgen für die Kommunalpolitik in NRW sind vielfältig: Bündnispolitik und Konsenssuche werden erschwert, der politische Diskurs wird schärfer und emotionaler, die Zusammenarbeit in Räten und Verwaltungen polarisiert. Es geht weniger um Sachfragen und die Suche nach konstruktiven Lösungen, sondern zunehmend um ideologische Konflikte, da es ja zum Geschäft der AfD gehört, die Unfähigkeit der sogenannten „Alt-Parteien“ zu entlarven. Diese werden gezwungen, sich zwischen Abgrenzung gegenüber der AfD und gezielter Problemlösungsarbeit neu zu positionieren. Dabei treibt die AfD sie vor sich her und oft gelingt es, dass rechte Sichtweisen und Rezepte übernommen werden, bei denen am Ende das Original immer noch überzeugender erscheint als die Imitation. Doch jede neue Normalisierung rechter Diskurse im Lokalen setzt ein Signal in Richtung Land und Bund – als Experimentierfeld für die Verschiebung roter Linien, potentiell auch für Koalitionsoptionen außerhalb bisheriger gesellschaftlicher Tabus und vielbeschworener „Brandmauern“.

Wie weiter?

Die NRW-Kommunalwahlen können paradigmatisch für die Herausforderungen einer Demokratie im Angesicht eines effektiven, aber inhaltlich unbestimmten Populismus gelesen werden. Der 16-Prozent-Erfolg der AfD im Westen ist Ausdruck gesellschaftlicher Verunsicherung, politischer Kommunikationsdefizite und der derzeitigen Unfähigkeit vieler Institutionen, auf den Wandel der öffentlichen Debattenkultur angemessen zu reagieren.

Wer dem Angriff auf die demokratische Mitte begegnen will, darf das Feld nicht nur analytisch verteidigen. Menschen wollen gehört und nicht belehrt oder beschwichtigt werden. Sie wollen praktische Lösungen und bessere Kommunikation. Sie erwarten Präsenz im Alltag  – und den Willen der politischen Repräsentanten, eigene Grenzen und Kommunikationsweisen beständig zu hinterfragen. Denn: Die Behauptung, die „wahre Stimme des Volkes“ zu sein, bleibt so lange wirkungsvoll, wie die politische Kultur Antworten und Erklärungen schuldig bleibt.

Gleichzeitig ist das aber auch viel verlangt von denjenigen, die es sich antun, als gewählte Kommunalvertreter für die Gemeinschaft zu arbeiten. Denn es gehört zum destruktiven Geschäft von Populisten wie der AfD, das Negative zu betonen und das politische System mit seinen demokratischen Institutionen zu diskreditieren. Regieren in einem solchen Umfeld wird nach der Kommunalwahl in NRW jedenfalls nicht einfacher.