US-Narrativ über Europa: Vom Partner zum Problem
Die neue US-Sicherheitsstrategie stellt Europa als geschwächten Kontinent dar. Während Washington das Bündnis neu definiert, sucht die EU ihren Kurs. Wohin steuert das transatlantische Verhältnis?
Die am 5. Dezember veröffentlichte neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA(NSS) markiert einen der drastischsten Tonwechsel in den transatlantischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das 33-seitige Dokument der Trump-Regierung zeichnet ein düsteres Bild Europas – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell. Der Kontinent, so heißt es, verwandle sich in eine Region, die ihre Identität zunehmend verliere.
In einem Interview mit Politico verschärft Donald Trump diesen Ton noch weiter: Europa sei kein Verbündeter mehr, sondern eine „Quelle der Instabilität“. Implizit wird suggeriert, dass der Kontinent nur durch amerikanisches Eingreifen vor dem Niedergang bewahrt werden könne.
Diese Perspektive ist weniger ein „neues Paradigma“ als vielmehr der Ausdruck eines strategischen Anspruchs: Die USA wollen ihre hegemoniale Position gegenüber Europa neu festigen. Washington beschreibt Europa nicht als gleichberechtigten Partner, sondern als ein geopolitisches Feld, das gelenkt und geformt werden muss.
Die im Strategiepapier aufgeführten politischen Zielsetzungen unterstreichen diesen Ansatz eindeutig:
- Wiederherstellung von Stabilität in Europa und eines strategischen Gleichgewichts mit Russland,
- Transformation Europas in eine Gemeinschaft souveräner Staaten, die ihre Verteidigung selbst tragen,
- Aufbau politischer Gegenkräfte innerhalb europäischer Nationalstaaten gegen den „aktuellen Kurs“,
- stärkere Öffnung der europäischen Märkte für amerikanische Produkte,
- gezielte Stärkung „robuster Nationen“ in Mittel-, Ost- und Südeuropa durch Waffenexporte, Handel und politische Kooperation,
- Eindämmung der NATO-Erweiterung,
- und eine aggressivere europäische Haltung im wirtschaftlichen Wettbewerb mit China.
Diese Prioritäten zeigen deutlich: Washington entwirft ein Europa, das schwächer, fragmentierter und einfacher steuerbar ist.
Europas Versäumnisse: Ideologie statt Strategie
So überzeichnet die amerikanischen Diagnosen wirken mögen – Europa ist keineswegs fehlerfrei. Die EU hat es über Jahre versäumt, den rasanten geopolitischen Wandel zu verstehen. Ihre normative Außenpolitik wurde zunehmend zu einer ideologischen Schablone, die reale Machtverschiebungen verdeckt.
Die Abhängigkeit von Energieimporten, sicherheitspolitische Schwächen, technologische Rückstände, eine ideologisierte Haltung gegenüber Türkiye sowie die jahrelang konfrontative Russlandpolitik – all das steht für einen strategischen Blindflug. Der Krieg in der Ukraine ist letztlich die Rechnung für eine Phase, in der der Kontinent den Realitäten auswich.
Die Begriffe „Identitätsverlust“ und „zivilisatorische Auslöschung“, die in der US-Strategie verwendet werden, sind überzogen, aber nicht völlig unbegründet. Europas demografische Schrumpfung, Integrationsprobleme und kulturelle Verunsicherung sind real und machen den Kontinent verwundbar.
Doch ein entscheidender Punkt bleibt: Europa steht nicht vor einem „terminalen Zusammenbruch“, wie Washington suggeriert, sondern vor einer überfälligen Phase strategischer Neuorientierung.
Transatlantischer Bruch: Die gezielte Spaltung Europas
Die neue Sicherheitsstrategie geht weit über Kritik hinaus: Sie verfolgt eine aktive Fragmentierung Europas. Laut Defense One, das sich auf eine unveröffentlichte Langfassung des US-Strategiepapiers beruft, wollen die USA Österreich, Ungarn, Italien und Polen aus der EU herauslösen. Diese vier Länder werden als Staaten genannt, mit denen Washington „intensiver zusammenarbeiten sollte – mit dem Ziel, sie von der EU zu lösen“.
Hinter dieser Strategie stehen drei Logiken: Erstens schafft ein geschwächtes, gespaltenes Europa für die USA eine leichter kontrollierbare transatlantische Ordnung.
Zweitens dient das Motto „Europa wieder groß machen“ weniger Europas Stärkung, sondern eher einer Neukonstruktion des Kontinents nach amerikanischen Interessen.
Drittens bevorzugt Washington kein Brüssel-zentriertes Europa mehr, sondern ein loses Gefüge aus nationalen Regierungen, die ideologisch näher an die USA gerückt sind.
Die neue NSS markiert damit nicht nur einen diplomatischen Konflikt, sondern eine geopolitische Zäsur. Die Beziehungen gestalten sich nicht länger in der Tradition des partnerschaftlichen Atlantizismus, sondern im Rahmen eines neu entstehenden Machtwettbewerbs.
Das US-Migrationsparadox
Besonders widersprüchlich ist die amerikanische Kritik an Europas Migrationspolitik. Die USA weisen auf niedrige europäische Geburtenraten hin und brandmarken Migration als größte Bedrohung für Europas Zukunft. Zugleich baut die amerikanische Wirtschaft ihre eigene Stärke seit Jahrzehnten gerade auf Migration auf. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache:
- 19,2 Prozent der zivilen US-Arbeitskräfte sind im Ausland geboren (2024).
- Insgesamt 29 Prozent der amerikanischen Arbeitskräfte sind „immigrant-origin“ – Migranten oder Kinder von Migranten (2023).
- 19 Prozent der STEM-Beschäftigten sind im Ausland geboren (2021); andere Studien nennen 23,1 Prozent (2019).
- 44,8 Prozent der Fortune-500-Unternehmen wurden von Migranten oder ihren Kindern gegründet (2023).
- Laut CFR lag dieser Anteil 2024 sogar bei 46 Prozent.
- 55 Prozent aller US-Unicorns haben mindestens einen Migranten als Gründer;
- in einer Analyse von 2025 waren 44 Prozent der 500 Unicorn-Gründer im Ausland geboren.
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Die USA verdanken ihre Innovationskraft und ihr Wirtschaftsmodell der Migration.
Dass Washington nun Europa vor Migration warnt, wirkt nicht nur widersprüchlich, sondern wie ein Versuch, geopolitische Konkurrenz zu schwächen. Europas demografische Dynamik wird sich kurzfristig nicht ändern – qualifizierte Migration wird unverzichtbar bleiben.
Europas Zukunft: Zeit für Pragmatismus
Die neue US-Strategie hält Europa einen Spiegel vor – doch dieser Spiegel ist halb verzerrt, halb übertrieben. Dennoch sollte Europa den Moment nutzen, um eine ehrliche Bestandsaufnahme zu wagen. Die diplomatischen Reflexe sind zu langsam geworden, die sicherheitspolitische Architektur ist veraltet, und die Außenpolitik schwankt zwischen normativer Überdehnung und strategischer Naivität. Während die Welt in eine Phase harter Konkurrenz eintritt, verharrt Europa häufig in institutioneller Bequemlichkeit.
Europa braucht eine Erneuerung – nicht als Reaktion auf amerikanische Warnungen, sondern aus eigener strategischer Notwendigkeit. Der Kontinent muss seine Diplomatie neu denken, seine Sicherheitsarchitektur modernisieren, seine Außenpolitik von ideologischen Reflexen befreien.
In diesem Kontext ist das Verhältnis zu anderen Drittstaaten wie Türkiye entscheidend. Die EU hat ihre Beziehungen zu Ankara jahrelang in normativen Argumenten festgefahren, doch damit schadet sie vor allem sich selbst. Türkiye ist für Europas Energieversorgung, Verteidigungsfähigkeit, Migrationsmanagement und geopolitische Präsenz im Schwarzen Meer, im Nahen Osten und im Kaukasus ein unverzichtbarer Partner. Eine pragmatische Annäherung – bis hin zu einer erneuerten, ernst gemeinten Beitrittsperspektive – würde Europas strategische Kapazitäten erheblich stärken.
Europa ist weder so schwach, wie Washington behauptet, noch so stark, wie Brüssels Bürokratien gerne glauben. Seine Zukunft hängt davon ab, ob der Kontinent den Mut findet, wieder Subjekt seiner eigenen Geschichte zu werden. Nicht das amerikanische Skript sollte Europas Richtung bestimmen, sondern ein selbstbewusstes, realistisches und weltoffenes strategisches Denken.