Türkiye und Deutschland: Strategische Partnerschaft 2.0

Deutschland und die Republik Türkiye gestalten ihre Zukunft gemeinsam: Aus strategischer Einsicht erwächst eine auf gegenseitigem Respekt basierte Partnerschaft auf Augenhöhe, die Stabilität und Wohlstand für beide Seiten sichert.

By Yasin Baş
Türkiye und Deutschland: Strategische Partnerschaft 2.0 / Foto: AA / AA

Der Antrittsbesuch von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in Türkiye und sein Treffen mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan sind weit mehr als nur ein diplomatischer Routineakt. Dass dieser Termin auf den 64. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens fällt, stellt ein starkes symbolisches Signal für den Willen zum Neuanfang in den teils eingefrorenen bilateralen Beziehungen dar. Diese zeitliche Koinzidenz ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines bewussten Signals, die die historische Tiefe und Zukunftsperspektive der türkisch-deutschen Partnerschaft unterstreichen soll.

In einer Phase globaler geopolitischer Verschiebungen und der Erosion etablierter Ordnungen in der Welt sehen sich Staaten weltweit gezwungen, ihre strategischen Allianzen neu zu justieren. Die Republik Türkiye hat sich unter der Führung von Präsident Erdoğan und der AK-Partei-Regierung seit 2003 zu einem unverzichtbaren globalen Akteur entwickelt, dessen Gewicht in keiner regionalen Gleichung mehr fehlen darf, sei es im Nahen Osten, in Zentralasien, im Kaukasus oder in Afrika. Ihr diplomatisches Geschick, ihre Fähigkeit, Sicherheit in der Region zu gewährleisten, und ihre einzigartige geostrategische Lage machen die Republik Türkiye zu einem Schlüsselpartner in einer zunehmend unübersichtlichen Weltlandschaft.

Türkiye als regionaler Stabilitätsanker, diplomatischer Gestalter und Friedensvermittler

Besonders deutlich manifestiert sich dieser gestiegene Einfluss in den Krisenherden der Region. In Gaza hat sich die Republik Türkiye als unverzichtbarer Vermittler etabliert, dessen gemeinsam mit den USA, Katar und Ägypten gebildetes diplomatisches Quartett maßgeblich die Agenda der Waffenstillstandsgespräche prägte und ein Abkommen erwirkt hat. Die Fähigkeit Ankaras, Kommunikationskanäle zu verschiedenen Konfliktparteien offen zu halten, nicht zuletzt durch ihre nachrichtendienstlichen Kapazitäten, unterstreicht die einzigartige Positionierung und neue Rolle von Türkiye. Denn die neue Regionalmacht agiert nicht parteiisch, sondern als fairer Makler, der das seltene Vertrauen von allen Seiten genießt – ob im Nahen Osten, der Ukraine, Russland oder vielen Teilen Afrikas – und damit eine einzigartige Glaubwürdigkeit auf der Weltbühne besitzt.

Die transformative Rolle in Syrien und die erfolgreiche Vermittlung im Ukraine-Krieg, vom Getreideabkommen bis zu Friedensgesprächen, unterstreichen die Position des Landes am Bosporus als ein globaler Gestalter, der die internationale Agenda aktiv prägt. Damit übernimmt Türkiye immer entschiedener die Rolle eines globalen Friedensvermittlers.

Deutschlands strategische Wiederannäherung an Türkiye

Vor diesem Hintergrund erhalten die jüngsten hochrangigen Besuche in Ankara, erst die des britischen Premierministers Keir Starmer mit dem Eurofighter-Abkommen, nun von Kanzler Merz, ihre eigentliche Bedeutung: Sie sind Ausdruck einer strategischen Neuausrichtung europäischer Türkiye-Politik. Deutschland und Europa sehen sich aus geopolitischen aber auch historischen Gründen zur Annäherung veranlasst, denn die Republik Türkiye kontrolliert nicht nur die südöstliche NATO-Flanke mit der zweitgrößten Armee des Bündnisses, sondern stellt durch ihre Schlüsselrolle im Migrationsmanagement, inklusive Abschiebungen und Rückführungen, eine unverzichtbare Stütze europäischer Interessen dar.

Die wirtschaftliche Verflechtung zeigt sich in einem Handelsvolumen von rund 55 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023, wobei über 500 deutsche Unternehmen bereits in Türkiye produzieren. Angesichts struktureller Schwächen der deutschen Wirtschaft wie Fachkräftemangel, Digitalisierungsrückstand, Krise der Automobilindustrie usw., gewinnt die Zusammenarbeit mit Türkiye zusätzlich an Bedeutung, denn türkische Programmierer, Softwareentwickler, Ingenieure und Pflegekräfte werden hierzulande dringend benötigt.

Nach dem Wegfall russischer Energielieferungen wächst zudem die strategische Bedeutung von Türkiye als Energiekorridor und Transitland, während die bemerkenswerte Entwicklung der türkischen Verteidigungsindustrie, insbesondere im Bereich der Drohnentechnologie, einen potenziellen Partner für die dringend benötigte Modernisierung der Bundeswehr bietet.

Herausforderungen im bilateralen Verhältnis: Vertrauensdefizite und unterschiedliche Wahrnehmungen

Trotz der strategischen Annäherung behindern konkrete Hindernisse eine vertiefte Kooperation. Ein eklatanter Widerspruch zum proklamierten Partnerschaftsgeist manifestiert sich in der Observation türkisch-islamischer Verbände – wie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) oder der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (ATIB) – sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Union Internationaler Demokraten (UID) durch die zuständigen Nachrichtendienste. Dass sich Vereinigungen, die sich neben ihrer kulturellen Identität explizit auch dem interreligiösen Dialog und sozialer Integration widmen, pauschal dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit ausgesetzt sehen, nährt nicht nur in Ankara das Gefühl eines ungerechtfertigten Doppelstandards. Dies erscheint vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Handlungsfreiheit ausländischer Einrichtungen in Türkiye besonders paradox.

Ein ähnliches Spannungsfeld offenbart sich im Umgang mit der im Januar 2024 vornehmlich durch Einwanderer und türkischstämmige Deutsche gegründeten Partei DAVA. Während von Seiten der Aufnahmegesellschaft stets Integration eingefordert wird, erfahren organisierte türkischstämmige oder muslimische Stimmen nicht selten Marginalisierung statt Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. Damit bleibt die vielbeschworene Einsicht, Integration sei keine Einbahnstraße, in der Praxis wirkungslos. Denn: Integration kann nur als gegenseitiger Prozess gelingen.

Ebenfalls kontraproduktiv wirkten sich die Vorgänge um den sogenannten „Kurdisch-Jüdischen Kongress“ in Berlin Anfang September aus. Die Teilnahme von Regierungsvertretern an einer von explizit Türkiye-kritischen Kreisen dominierten Veranstaltung untergrub das mühsam aufgebaute Vertrauen und sendete ein höchst ambivalentes Signal. Diese Vorkommnisse hinterlassen bleibende Spuren im bilateralen Klima. Vor dem Hintergrund der jüngsten Annäherung zwischen Türkiye und ihrer kurdischen Bevölkerung erscheint es als eine verpasste Gelegenheit, diesen Dialog nicht nach Kräften zu fördern, sondern stattdessen Kräften der Polarisierung Raum zu geben.

Gemeinsame Gestaltung einer neuen multipolaren Ära auf Augenhöhe

Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr allein im Westen gestaltet, denn das wirtschaftliche und politische Schwergewicht verschiebt sich unaufhaltsam nach Osten. In dieser neuen multipolaren Ära ist die Republik Türkiye aufgrund ihrer einzigartigen geografischen und kulturellen Brückenfunktion prädestiniert, eine führende Rolle zu übernehmen. Deutschland und Europa stehen vor einer Weichenstellung: Soll die Republik Türkiye durch Distanz in andere Bündnisse gedrängt oder durch eine Partnerschaft auf Augenhöhe an den Westen gebunden werden? Der entschiedene Weg der Einbindung stößt hierzulande allerdings nicht nur auf Befürworter.

Bundeskanzler Friedrich Merz machte nach seinem Antrittsbesuch in Ankara deutlich, dass er die Partnerschaft mit Türkiye stärken möchte. „Lassen Sie uns die riesigen Chancen unserer Beziehungen in Zukunft noch besser nutzen“, forderte Merz. Die deutsch-türkische Verbindung bezeichnete er als „in einer einzigartigen Weise breit und tief“.

Damit kommt dem Antrittsbesuch von Kanzler Merz und der damit eingeleiteten Annäherung eine besondere Bedeutung zu. Doch könnte sie durch substanzielle Zugeständnisse weiter untermauert werden. Eine Modernisierung der Zollunion, Visa-Liberalisierung und die Beendigung der Marginalisierung türkischstämmiger Organisationen in Deutschland wären hierfür konkrete Ansatzpunkte.

Die Republik Türkiye von heute ist nicht mehr der Juniorpartner von einst, der vor 64 Jahren Arbeitskräfte exportierte, sondern ein selbstbewusster strategischer Akteur, der seine Interessen klar definiert. Eine prosperierende und stabile Republik Türkiye liegt auch im vitalen Interesse der Bundesrepublik. Mit Weitsicht und gegenseitigem Respekt können beide Seiten von den Herausforderungen dieser neuen Ära profitieren und eine partnerschaftliche Zukunft auf Augenhöhe, die durch eine Win-Win-Situation geprägt ist, gestalten.

Neubelebung der Beziehungen genau zum richtigen Zeitpunkt

Diese Neuausrichtung der türkisch-deutschen Beziehungen kommt daher zum optimalen Zeitpunkt. Die strategische Bedeutung der Republik Türkiye als regionaler Stabilisator und Brückenbauer zwischen Ost und West wächst stetig. Gleichzeitig verbinden Deutschland und Türkiye nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern auch enge menschliche und kulturelle Bande durch die große türkischstämmige Community in Deutschland. Eine vertiefte Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen Energie, Sicherheit, Wirtschaft, aber auch Kultur (und Religionspolitik), könnte beiden Ländern erhebliche Vorteile bringen.

Deutschland gewinnt einen verlässlichen Partner in einer unruhigen Region, während Türkiye von deutschen Technologien und Investitionen profitieren kann. Diese vielschichtige Verbindung, die über klassische Diplomatie weit hinausgeht, bietet ein tragfähiges Fundament für eine erneuerte Partnerschaft, die in einem sich wandelnden globalen Umfeld für beide Seiten von strategischem Vorteil ist. Das wäre eine strategische Partnerschaft 2.0.